Abschluss des ERA Tarifvertrags

ERA-TV Baden-Württemberg

25.06.2003 Im Folgenden das Statement der IG Metall zur Pressekonferenz am 24. Juni 2003 im Wortlaut

Meine Damen und Herren,

das ERA-Projekt hat unsere beiden Seiten nun seit über
9 Jahren intensiv beschäftigt. Zwischen dem Start des Projekts und dem nun, vorbehaltlich der Zustimmung der Gremien, vorliegenden Abschluss, lagen Hunderte von Beratungs- und Verhandlungsterminen. Kein anderes tarifpolitisches Projekt der IG Metall hat soviel Engagement haupt- und ehrenamtlicher Kolleginnen und Kollegen abgefordert wie ERA. Die Erarbeitung eines Tarifvertrages in Projektstrukturen, sowohl innerhalb der Verbände wie auch in dem Aufbau der Verhandlungen, ist an sich innovativ.
Aber nur so ließ sich ein solches komplexes Thema bewältigen.

Nun zu einigen wesentlichen Ergebnissen aus Sicht der IG Metall:

Mit den nun vorliegenden Verhandlungsergebnissen zu ERA, zur ERA-Entgeltlinie, zur ERA-Einführung und zur Fortgeltung der leistungspolitischen Bestimmungen des LRTV II haben wir ganz si-cherlich einen Meilenstein in der Tarifgeschichte der Nachkriegszeit gesetzt. Hinzu kommt, als ein integrierter Bestandteil des Gesamtprojekts, der Qualifizierungs-Tarifvertrag von 2001, der diese Reform unserer Rahmentarife ergänzt. Erstmals haben damit die Tarifvertragsparteien eine vollständige Neuordnung der Entgeltstrukturen in freien Tarifverhandlungen erzielt. Ich darf erinnern, dass viele Tarifbestimmungen gerade für Angestellte, die wir nun ersetzen, ihre Wurzeln in den lohnordnenden Maßnahmen des Nazi-Regimes hatten.

Wenn es eines Beweises bedarf, dass Tarifautonomie und Flächentarif zukunftsfähige und erfolgreiche Basis moderner industrieller Beziehungen sind, dann liefert ERA ganz sicher ein schlagendes Argument.

Mit der Festlegung der Entgeltlinie, beginnend mit einem Betrag von 1592,89 Euro zum heutigen Stand der Tarifentgelte und einem höchsten Tarifgrundentgelt von 4014,50 Euro, haben wir eine Entgeltspanne definiert, die eine ausreichende Differenzierung der vielfältigen und unterschiedlichsten Anforderungen von Tätigkeiten in der Metall- und Elektroindustrie zulässt. Ein einheitliches Entgeltraster von einfachsten Tätigkeiten über Facharbeit hin zu hochqualifizierten Tätigkeiten von Entwicklern - dies eröffnet Durchlässigkeit und ebnet Mauern ein, die heute unterschiedliche Beschäftigtengruppen und ihre historisch gewachsenen unter-schiedlichen Entgeltraster trennen. Dies wird ergänzt durch das von den Tarifvertragsparteien schon seit längerem vereinbarte gemeinsame Arbeitsbewertungsverfahren, das zeitgemäße Kriterien für eine Grundentgeltdifferenzierung beinhaltet.

Zusammen mit einem Leistungsentgelt, mit dem durchschnittlich ein Volumen von 15 % zusätzlich zum Grundentgelt erreicht werden soll, bedeutet diese Entgeltlinie, insbesondere für die Facharbeit, eine deutliche Besserstellung. Das Grundentgelt in der sogenannten Facharbeitsecklohngruppe, also der Entgeltgruppe, in welcher üblicherweise nach einer 3 bis 3 ½-jährigen Berufsausbil-dung begonnen wird, beträgt nun 2152,55 Euro. Es liegt damit 248 Euro über dem heutigen Wert der Facharbeiterlöhne und erhöht auch die Verdienstchancen für den Einstieg bei kaufmännischen und technischen Berufseinsteigern.
Für gewerbliche Arbeit eröffnet der ERA-TV eine Entwicklung im Grundentgelt bis zu 3000 Euro, hinzu kommt noch das Leistungsentgelt und Belastungszulagen. Dies bedeutet hier eine um ca. 500 Euro höhere Verdienstchance.

Ohne Zweifel: Zusammen mit dem Qualifizierungs-Tarifvertrag, der zusätzliche persönliche Entwicklung im Berufsleben ermöglicht, wertet ERA die Chancen für Kolleginnen und Kollegen mit Berufsausbildung auf. ERA gibt deutliche Zeichen an den Arbeitsmarkt und die Ausbildungsentscheidungen junger Menschen: Es lohnt sich, eine Berufsausbildung in der Metall- und Elektroindustrie zu beginnen. Hier stecken Entwicklungschancen.

Ich bin sicher, dass mit ERA die Metall- und Elektroindustrie Baden-Württembergs bestens auf das Ringen um den qualifizierten Nachwuchs - und der wird spätestens mit dem massiven Rückgang der Schülerabgangszahlen 2007 einsetzen - gerüstet ist. ERA stärkt auch, und dies war Willen beider Tarifvertragsparteien, den Stellenwert der dualen Berufsausbildung.

Mit ERA rückt die IG Metall mit ihrer tarifpolitischen Agenda deutlich in die Mitte der heutigen Beschäftigtenstrukturen. Waren 1970, als die heute geltenden Lohnrahmentarife verhandelt wurden, noch 50 % der Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie auf Tätigkeiten unterhalb des Facharbeiterniveaus beschäftigt, sind dies heute nicht mal mehr ein Drittel. Dagegen hat sich der Anteil von Facharbeit und hochqualifizierter Tätigkeiten deutlich ausgeweitet.

Das Rücken in die Mitte der heutigen Beschäftigtenstrukturen ist für die IG Metall als Mitgliedergewerkschaft kein konfliktfreier Weg. Unsere traditionelle Mitgliedschaft, die Kolleginnen und Kollegen in der Produktion, haben in vielen Diskussionen zu ERA immer wieder ihre Befürchtung geäußert, abgehängt zu werden.

Es war eine der größten Herausforderungen, nun gerade in der Schlussphase der Verhandlungen, Lösungswege für die unteren Entgeltgruppen zu finden, die einerseits die Entgelte unserer

Kolleginnen und Kollegen in der Produktion nachhaltig sichern, andererseits die Entgeltlinie auch für einfache Tätigkeiten in Dienstleistungen nicht überproportional nach oben drückt. Die Lösung sieht jetzt Sockelbeträge auf die Grundentgelte für die Be-schäftigten im Leistungslohn in den Entgeltgruppen 1 bis 4 vor.

Mit der nun vorliegenden Tarifregelung zum Leistungsentgelt ist wie beim Grundentgelt eine grundlegende Reform der Methoden zur Entgeltdifferenzierung verbunden. ERA enthält nicht nur neue Methoden wie die Zielvereinbarung, sondern eine deutliche Erwei-terung der betrieblichen Gestaltungsmöglichkeiten im Leistungsentgelt. Dies war von der IG Metall so gewollt, weil wir ein originäres Interesse haben, die Vielfalt betrieblicher Leistungssituation im tariflichen Leistungsentgelt abbilden zu können. Den Einfluss der Tarifverträge auf die Effektiventgelte zu sichern, erfordert gerade im Leistungsentgelt die Chance zur betrieblichen Differenzierung.

Vernünftige Kompromisse konnten wir hier auch in der Frage von Mitbestimmung und Beteiligung der Betroffenen finden, ohne Südwestmetall hier zu überfordern.

Bis zuletzt umstritten waren die Regeln zur Reichweite tariflicher Regelungen im Leistungsentgelt, zur Absicherung von tariflichem Leistungsentgeltvolumen und zur Überleitung der heutigen Leistungsentgelte. Ohne auf die Details der nun gefundenen Lösungen eingehen zu wollen, sei aus Sicht der IG Metall festgestellt, dass wir im Ergebnis einen vernünftigen Ausgleich zwischen einem im Tarifvertrag angestrebten Leistungsentgeltvolumen von 15 % und den Notwendigkeiten einer betrieblichen Differenzierung gefunden haben. Eine Differenzierung, die es uns erlaubt, auch die heutigen Leistungsentgeltwelten in die ERA-Welt zu übertragen.

Eine der sicherlich schwierigsten Verhandlungsmaterien der letzten Wochen.

Teil des Gesamtpaketes ist auch die Fortführung der heutigen Bestimmungen zu Leistungsbedingungen im Leistungslohn für das Tarifgebiet Nordwürttemberg/ Nordbaden. Die bezahlte Mindester-holzeit von 5 Minuten, die Regelungen zur Bandarbeit - sie erhalten eine neue Aktualität angesichts von Rationalisierungsstrategien der Unternehmen, die wieder im 1-Minuten Takt den Finalpunkt industrieller Entwicklung sehen. Wirksamer Schutz vor Gesundheitsverschleiß und Leistungsüberforderung im Arbeitsleben ist gerade angesichts der sozialpolitischen Debatte um den Rentenzugang eine hochaktuelle Aufgabe, der sich die Tarifvertrags-parteien stellen müssen. Und dies nicht nur für den Leistungslohnbereich. Hier hat ERA keinen Durchbruch nach vorne gebracht, sondern bestehende Regelungen fortgeschrieben. Diese Themen werden daher weiter auf der tarifpolitischen Agenda der IG Metall Baden-Württemberg an vorderster Stelle stehen.

Das nun vorliegende Gesamtergebnis von ERA stellt die Betriebe, Betriebsräte und Geschäftsleitungen vor eine große Aufgabe: Jahrzehntelang gewachsene Strukturen müssen auf ERA umgestellt werden. Dort wird sich beweisen, ob es uns gelang, Neues zu schaffen. Dort wird sich beweisen, ob die gefundenen Regelungen tragfähig sind. Dies wird nicht konfliktfrei sein. Hier wird die Beratung und die Haltung der Verbände entscheidend sein. Insoweit ist das jetzt gefundene Verhandlungsergebnis ein erster Beweis, noch kein endgültiger, ob die Konfliktpartnerschaft von IG Metall und Südwestmetall diese gewaltige Herausforderung, die Umstellung der Entgeltbegründung und Entgeltbasis von über 800.000 Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie, erfolgreich meistert.

Letzte Änderung: 22.04.2008