25 Jahre deutsche Einheit

IG Metall Deutschland

02.10.2015 Was die IG Metall erreicht hat - was sie jetzt vorhat

Seit einem Vierteljahrhundert sind Ost- und Westdeutsche wieder vereint. Zeit für eine Bilanz: Was haben die Gewerkschaften in den neuen Bundesländern geschafft? Und wie geht es weiter?

Als Jan Bloempott im Februar 1991 nach Stralsund kam, stand er wie viele andere vor einer Herkulesaufgabe. Nur wenige Monate zuvor hatten drei Kollegen dort eine IG Metall-Verwaltungsstelle gegründet. Nun traten Tausende in die Gewerkschaft ein. "Es herrschte die totale Aufbruchstimmung", erinnert sich Bloempott an diese Zeit.

"Wir hatten zunächst nur eine Telefonleitung. Es war schwer, uns zu erreichen und die meisten Kolleginnen und Kollegen hatten selbst keinen Telefonanschluss. Mit einem Mobilfunkgerät sind wir zum Teil auf höhere Punkte gefahren, um uns zu verständigen, auch nach Westen hin."

Was ist von der Aufbruchstimmung geblieben? Nach 25 Jahren Deutsche Einheit hat die IG Metall Bilanz gezogen: Welche Erfolge können die Gewerkschaften vorweisen? Welche Herausforderungen stehen bevor?

Die große Illusion
Wer nach der Wiedervereinigung an Helmut Kohls "blühenden Landschaften" geglaubt hatte, wurde bitter enttäuscht. Tatsächlich begann für die ostdeutsche Industrie ein beispielloser Niedergang. Die Währungsumstellung war für Ost-Unternehmen ein Schock. Mit einem Schlag verloren sie ihre Wettbewerbsfähigkeit. Die Folge: Nach dem Auslaufen des tariflichen Kündigungsschutzes im Juli 1991 kam es zu Massenentlassungen.

Kaum im Osten etabliert begann für die IG Metall ein Kampf um Arbeitsplätze - und gegen die Ausverkauf-Pläne der Treuhand-Anstalt. In Rostock mauerten junge Metaller den Eingang der Treuhand zu (Bild). In Eisenhüttenstadt kämpften 12 000 Beschäftigte um ihr Stahlwerk. Die IG Metall organisierte die Gründung von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften.

IG Metall - Deutsche Einheit

Erfolge, die bis heute wirken
Trotz Schließungen und Insolvenzen: Immer wieder gelang es, industrielle Kerne zu sichern - und damit die Keimzelle für eine Re-Industrialisierung und neue Arbeitsplätze zu legen.

Wie sehr sich dieser Einsatz gelohnt hat, zeigt sich heute: Die ostdeutsche Industrie ist auf Wachstumskurs. "Sie ist der Motor für den Aufbau Ost", sagt Detlef Wetzel, Erster Vorsitzender der IG Metall. Besonders gut läuft es oft an traditionellen Industrie-Standorten. Das zeigt: Industrielle Strukturen dürfen nicht leichtfertig aufgegeben werden.

Gemeinsam stark

Die IG Metall in der DDR hatte 1,8 Millionen Mitglieder. Eine wirksame Interessenvertretung war sie aber nicht. Ab 1990 schulten Metallerinnen und Metaller aus dem Westen tausende Beschäftigte zum Betriebsverfassungsgesetz, hielten Seminare ab und gründeten 35 Verwaltungsstellen. 1992 hatte die IG Metall im Osten rund 788 000 Mitglieder, 1996 rund 394 000, 2010 nur noch 210.300. Doch seit 2011 steigen die Zahlen wieder. 2014 waren 213 877 Kolleginnen und Kollegen Mitglied der IG Metall (ohne Berlin).

Die Ursachen der Trendumkehr: Zum einen hat sich das öffentliche Klima gegenüber Gewerkschaften verbessert, ihre Arbeit wird stärker anerkannt. "Vor allem wegen des Krisenmanagements 2008/2009", sagt Klaus Dörre, Arbeitssoziologe an der Universität Jena. Damals konnten durch konstruktive Vorschläge der Gewerkschaften Entlassungen verhindert werden.

Außerdem gibt es laut Dörre in den Betrieben die Empfindung, dass "Lohn und Leistung nicht mehr übereinstimmen". Die wahrgenommene Lohnungerechtigkeit sei ein Hauptgrund für gewerkschaftliches Engagement. "Die Beschäftigten realisieren: Ohne dass sie sich engagieren, Betriebsräte gründen und mehr Leben in Mitbestimmungsstrukturen bringen, sind auch Tarifforderungen nicht durchsetzbar."

Der Kampf für die 35-Stunden-Woche
Im Jahr 2003, 13 Jahre nach der Deutschen Einheit, arbeiten Metallerinnen und Metaller in Ostdeutschland immer noch 38 Stunden in der Woche - und damit durchschnittlich einen Monat länger im Jahr als die Kolleginnen und Kollegen im Westen. Die IG Metall will für Gerechtigkeit bei der Arbeitszeit sorgen. Was folgt, ist einer der härtesten Arbeitskämpfe der bundesdeutschen Geschichte.

Dabei ist die Ausgangslage gut: Die Produktivität in den ostdeutschen Metall- und Elektrobetrieben ist gestiegen, die Exportquoten sind hoch, die Lohnstückkosten niedriger als im Westen. Nach Warnstreiks und Urabstimmung beginnt am 1. Juni 2003 in Sachsen der Streik mit rund 12 000 Beschäftigten. Am 17. Juni folgt Berlin-Brandenburg.

Die Arbeitgeber reagieren hart: Sie reichen Klage beim Arbeitsgericht ein. Es gibt Polizeischutz für Streikbrecher. Mit Hubschraubern wird Rohmaterial angeliefert, direkt über die Köpfe der Streikenden hinweg, wie beim Automobilzulieferer Federal-Mogul in Dresden. Von der Politik gibt es keine Rückendeckung. Im Gegenteil: Der Brandenburger Wirtschaftsminister initiierte gar einen "Marsch der Arbeitswilligen" und führte ihn an. Am 29. Juni um 24 Uhr beendet die IG Metall die Streiks.

Tarifbindung: Arbeitgeber steigen aus
Bei den Ost-Tarifverhandlungen 1991 erreichte die IG Metall einen Abschluss von 62,5 Prozent der Westentgelte - und einem Stufenplan auf hundert Prozent bis 1994. Doch 1993 kündigten die Arbeitgeber rechtswidrig diesen Stufenplan. "Sie behaupteten, die vereinbarte Angleichung sei aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu halten", sagt Hartmut Meine, IG Metall-Bezirksleiter in Niedersachen und Sachsen-Anhalt. Die Reaktion: Streik, Rettung des Stufenplans, aber Streckung der Entgelt-Angleichung bis 1996.

1995 herrschte noch immer Massenarbeitslosigkeit. Viele Unternehmen traten aus dem Arbeitgeberverband aus. Betriebe, die sich später neu ansiedelten, gingen nicht mehr in den Tarifvertrag. Beherrschendes Ziel in den Köpfen der Menschen war nicht länger die rasche Angleichung an den Westen, sondern die Sicherheit des Arbeitsplatzes. Eine Konsequenz aus dieser Phase ist die niedrige Tarifbindung im Osten.

Einen Gefallen taten sich die Arbeitgeber damit nicht: Wegen der niedrigen Löhne wurde der Osten immer unattraktiver für junge und gut ausgebildete Menschen. Dieselben Betriebe, die einst aus dem Arbeitgeberverband und der Tarifbindung ausstiegen, "kommen reumütig zurück", sagt Meine. "Denn der Flächentarifvertrag gilt als Gütesiegel für gute Personalpolitik, mit dem sie eher Fachkräfte bekommen." Inzwischen gelingt es zunehmend, die Tarifbindung in den neuen Bundesländern zu erhöhen.

Die neue Generation
Wenn es in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie Entlassungen gab, mussten Jugendliche viele Jahre lang als erste dran glauben. Heute treffen sie auf einen ausgedünnten Arbeitsmarkt und setzen sich selbstbewusst für mehr Mitbestimmung und Tarifbindung ein. Jugendliche in Ostdeutschland engagieren sich deutlich mehr als Erwachsene, und zwar besonders in Gewerkschaften, Parteien und Bürgerinitiativen. Eine selbstbewusste Generation wächst nach.

Viel erreicht - genug zu tun
So positiv die Bilanz nach 25 Jahren Einheit ausfällt: Es bleibt noch genug zu tun. "Wir haben nach wie vor ein deutliches Einkommensgefälle zwischen Ost und West", sagt Wolfgang Lemb, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. "Ziel muss es deshalb sein, die Tarifbindung in Ostdeutschland weiter zu erhöhen."

Auch das Thema Arbeitszeit bleibt auf der Agenda. "Wir müssen uns diesem Thema stellen", sagt Wolfgang Lemb. "Viele Kolleginnen und Kollegen - insbesondere jüngere - erwarten das."

Letzte Änderung: 01.10.2015