Raus aus der Schmuddelecke

11.01.2007 Zeitarbeit hat sich zum Jobmotor gemausert - Stuttgarter Nachrichten vom 11. Januar 2007 - von Imelda Flaig

Jeder zweite Arbeitsplatz entsteht in Verleihbranche - Gewerkschaften: Stammpersonal wird verdrängt

Selten in den letzten Jahrzehnten hat Deutschland eine solche Erholung auf dem Arbeitsmarkt erlebt wie 2006. Vor allem Zeitarbeitsfirmen boomen. Derzeit entsteht in dieser Branche jeder zweite neue Arbeitsplatz.

Antonio Capuozzo arbeitet bei einem Autozulieferer in der Region Stuttgart. Als "Springer" bedient er unterschiedliche Maschinen. "Ah, ein alter Kollege kommt", hat ihn der Schichtleiter begrüßt, denn der 23-Jährige war in dem Betrieb schon mal im Einsatz. Capuozzos eigentlicher Arbeitgeber heißt Randstad und ist mit rund 30 000 Beschäftigten das größte deutsche Zeitarbeitsunternehmen.

Die Zeitarbeitsfirma zahlt Capuozzo den Lohn und führt für ihn Sozialversicherungsbeiträge ab. Sie leiht Mitarbeiter im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung an andere Firmen aus.
Nach der Bundeswehrzeit und vielen erfolglosen Bewerbungen schaffte der Automobilmechaniker mit Randstad den Einstieg ins Berufsleben. "Die haben mir einen guten Job verschafft", sagt Capuozzo, der sich von der Zeitarbeitsfirma schon öfter verleihen ließ. Beim ersten Einsatz bei einem Unterhaltungselektronikhersteller wurde er sogar fest übernommen. Pech, dass dieser schon ein halbes Jahr später seinen Service dichtmachte und alle Mitarbeiter entließ. "Dann bin ich wieder zu Randstad", sagt Capuozzo. Binnen weniger Tage wurde er wieder vermittelt. Als Arbeitnehmer "zweiter Klasse" fühlt er sich als Zeitarbeiter dennoch nicht. "Man muss flexibel sein", sagt er - auch wenn er hofft, über die Zeitarbeit eine feste Stelle finden zu können.

Jeder dritte Zeitarbeitnehmer schafft auf diese Weise den Sprung in einen festen Job bei einer Kundenfirma. Die einst als moderne Sklavenhalter und Arbeitgeber zweiter Klasse diskreditierten Zeitarbeitsunternehmen haben ihr Schmuddel-Image abgelegt. Der Boom der Branche ist vor allem auf die Hartz-Reformen zurückzuführen. Damit fielen eine Reihe von Verboten für Zeitarbeitsfirmen weg, die damit leichter Leute einstellen und verleihen konnten - und den Arbeitsmarkt damit in Bewegung brachten. "Wir können den Mitarbeiter so lange beim Kunden lassen, wie dieser will", sagt Ingrid Hofmann, Vize-Präsidentin des Bundesverbands Zeitarbeit (BZA). Dadurch sei die Zeitarbeit auch für längere Projekte und höher qualifizierte Tätigkeiten interessant.

Hat die Branche früher vor allem un- und angelernte Kräfte vermittelt, sind es mittlerweile auch hoch qualifizierte Fachkräfte und Ingenieure - 60 Prozent der Zeitarbeitnehmer haben eine abgeschlossene Ausbildung, eine Lehre oder ein Studium. Auch durch den seit Anfang 2004 geltenden Branchentarifvertrag habe sich das Image der Zeitarbeit verbessert, sagt Hofmann, obwohl der Einstiegstarif für Ungelernte nur bei 7,15 Euro pro Stunde liegt - deutlich weniger als im Metalltarif.

Heute gilt Zeitarbeit als Jobmotor am Arbeitsmarkt. Egal ob die Anbieter Manpower, Randstad oder Adecco heißen - im letzten Jahr waren sie die größten Arbeitsplatzbeschaffer. Auch dieses Jahr soll das so bleiben. Allein Adecco will 2007 hier zu Lande mehr als 12 000 neue Stellen schaffen. "Das ist nicht unrealistisch", sagt Deutschland-Chef Uwe Beyer. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern sei der deutsche Markt unterentwickelt. Der Anteil der Zeitarbeitnehmer an den sozialversicherungspflichtigen Jobs liegt hier bei knapp 1,5 Prozent, in den Niederlanden oder Großbritannien sind es fast fünf Prozent. Nach Schätzung der Interessengemeinschaft Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (IGZ) ist die Zahl der Zeitarbeitnehmer 2006 um rund 20 Prozent auf 540 000 Beschäftigte gestiegen. Bis 2010 könnte die Millionen-Grenze erreicht werden.

Gerade im Aufschwung setzen viele Unternehmen erst mal auf Zeitarbeitskräfte, ehe sie einen Mitarbeiter fest einstellen. Sie verschaffen sich so die nötige Flexibilität bei der Personalplanung sowie Entlastung bei Auftragsspitzen und Personalengpässen. "Man kann schneller und besser auf Abrufzahlen der Kunden reagieren", sagt Andreas Schlachta, Personalchef der Recticel Automobilsysteme GmbH. Rund 100 der 700 Mitarbeiter in Deutschland sind Zeitarbeitnehmer, mit denen Schlachta durchweg positive Erfahrungen gesammelt hat. Sie seien zuverlässig, engagiert und motiviert. Der Autozulieferer, der vom Werk in Unterriexingen im Kreis Ludwigsburg auch Mercedes mit Armaturentafeln und Türinnenverkleidungen beliefert, greift bei Auftragsspitzen, Urlaubs- und Krankheitsvertretungen auf Zeitarbeiter zurück - nicht nur in der Produktion, auch in der Verwaltung. "Wenn der Kunde zufrieden ist, bekommen wir den nächsten Auftrag", sagt Schlachta.

So positiv fällt die Einschätzung bei den Gewerkschaften nicht aus. "Stammpersonal wird durch billige Zeitarbeitskräfte verdrängt", sagt Kai Bliesener von der IG Metall Baden-Württemberg. Die Unternehmen seien immer weniger bereit, soziale Verantwortung zu übernehmen und sich langfristig an Arbeitnehmer zu binden. Stattdessen setzten sie mit geringer verdienenden Zeitarbeitskräften ihre Stammbelegschaft unter Druck, um Konzessionen beim Lohn abzuringen. Das Umsatzplus in der baden-württembergischen Metall- und Elektroindustrie von rund zehn Prozent im vergangenen Jahr sei mit gleich hohen Stammbelegschaften erwirtschaftet worden. Das bedeute, dass das zusätzliche Arbeitsvolumen mit Leiharbeit umgesetzt worden sei. Prominentes Beispiel in Sachen Zeitarbeit ist BMW in Leipzig, wo rund ein Drittel der 2200 Mitarbeiter Zeitarbeitskräfte sind. Auch bei Airbus Deutschland arbeiten neben 22 000 Festangestellten 7300 langfristig Entliehene wie Ingenieure oder Kaufleute. Wegen der Auftragskrise nach den Produktionsproblemen beim Superjumbo A380 verlieren zwar die ersten 1000 ihre Stelle, kommen aber anderweitig in Zeitarbeit unter. Das Jobwunder Zeitarbeit sieht Bliesener mit gemischten Gefühlen, weil die Jobs an der falschen Stelle entstünden.

Der 55-jährige Bautischler, der seinen Namen nicht nennen will und über eine Zeitarbeitsfirma als Staplerfahrer bei einem Fensterbauer in der Region Stuttgart arbeitet, macht sich keine Illusionen. "Für mich bleibt nur die Zeitarbeit", sagt er, die gäben einem über 50-Jährigen wenigstens eine Chance.

Letzte Änderung: 20.11.2007