Hannoveraner Erklärung

 

 

Für mutige Reformen

in der

Aus- und Weiterbildung

 

 

 

 

Erklärung der Teilnehmer der Betriebs- und Personalrätekonferenz der Gewerkschaften IG Metall und ver.di am 29. Juni 2002

 

 

                                                                                                    


Bildung ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts

 

Diese Aussage ist neuerlich und dramatisch durch die Ergebnisse der Pisa-Studie bestätigt worden. In keiner anderen Industrienation haben Herkunft und soziales Umfeld von Jugendlichen einen so nachhaltigen Einfluss auf die Bildungs- und damit Berufs- und Lebenschancen des Einzelnen wie in Deutschland.

 

Dabei ist Bildung eine unverzichtbare Grundlage für eine freie, solidarische, mündige und gerechte Gesellschaft. Sie dient der Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten. Sie kann und muss den Menschen die Qualifikationen zur Orientierung und zur Mitgestaltung in der Gesellschaft vermitteln. Sie kann und muss entscheidend zur Chancengleichheit sowie zur ökonomischen und sozialen Sicherung für alle beitragen.

 

Das Grundrecht auf Bildung unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Vorbildung kann nur dann umfassend umgesetzt werden, wenn es einer ausschließlichen Kosten- und Nutzenkalkulation entzogen und als gesellschaftliche Aufgabe verstanden wird.

 

Dem Anspruch auf Chancengleichheit in und durch Bildung muss durch

Ä      die materielle Absicherung von Bildungsmaßnahmen,

Ä      eine größere Durchlässigkeit der Bildungswege,

Ä      mehr Gleichwertigkeit  der beruflichen Bildung mit dem allgemeinen Bildungswesen und durch

Ä      die Ausweitung des Rechtsanspruchs auf Qualifizierungsmaßnahmen


zur Geltung verholfen werden.

 

 

Qualifizierte berufliche Erstausbildung ist eine Investition in die Zukunft

 

Nur eine hohe Qualität der Ausbildung ist Grundlage, um den sich ändernden Anforderungen an technische und soziale Kompetenz im Erwerbsleben gerecht werden zu können.

 

Sogenannte „praxisorientierte Ausbildungen“, in denen die Ausbildungszeiten verkürzt und die Qualifikationen eingeschränkt werden, führen die davon Betroffenen in die berufliche und soziale Sackgasse. Vielmehr ist es notwendig, allen Berufseinsteigern Qualifikationen wie z.B. den Umgang mit Informationstechnik, Medienkompetenz und das Lernen lernen zu vermitteln. Schlüsselqualifikationen wie Teamfähigkeit, soziale Kompetenz, Projekt- und Prozessarbeit müssen in alle Ausbildungsberufe integriert werden.

 

Oft fehlt für die Vermittlung dieser Qualifikationen (ausreichend) kompetentes und auf dem aktuellen Stand geschultes Ausbildungspersonal. Schlüsselqualifikationen können nur durch Ausbilder/innen und Berufsschullehrer/innen vermittelt werden, die die Fähigkeit besitzen, die Auszubildenden beim Lernen zu begleiten und anzuleiten, sie individuell zu fördern und nicht nur deren Auslese durch ein reformbedürftiges Prüfungssystem zu überwachen.

 

 

Das bewährte duale Ausbildungssystem muss durch mutige Reformen zukunftssicher gemacht werden

 

Das duale System hat in den letzten Jahren schwer gelitten. Schwachpunkte sind unverkennbar: Oft fehlt eine Abstimmung und Koordination zwischen Betrieb und Berufsschule, zwischen Praxis und Theorie. Die Sachausstattung an den beruflichen Schulen muss verbessert werden. Moderne Sachausstattungen und Lehrer/innen, die in der Lage sind, zukunftsfähige Ausbildungsinhalte zu vermitteln, sind unabdingbar für ein funktionierendes duales Zusammenspiel. Dabei kommen auf die Berufsschulen bsw. durch die notwendige Vermittlung von Fremdsprachen zusätzliche Aufgaben hinzu.

 

Aber auch in den Betrieben gibt es unverkennbar Defizite: Die Inhalte der Ausbildungsordnungen werden nicht vollständig umgesetzt, entsprechend hoch sind die Durchfallquoten bei den Zwischen- und Abschlussprüfungen; im Handwerk fehlt es an systematischer Ausbildung in überbetrieblichen Ausbildungsstätten; Lernen im Betrieb wird nicht mit der notwendigen Professionalität und Intensität vorbereitet und durchgeführt; das neben- und hauptberufliche Bildungspersonal wird nicht im notwendigen Umfang unterstützt und ebenso wie in den Berufsschulen fehlt es in vielen Betrieben an moderner Ausstattung.

 

 

Für das Recht auf eine Berufsausbildung

 

Auch in den fast vier Jahren rot-grünen Regierens wurden die strukturellen Fehlentwicklungen auf dem Ausbildungsstellenmarkt nicht korrigiert. Nach wie vor fehlt es in Deutschland an einem auswahlfähigen Angebot an Ausbildungsplätzen. Noch immer findet nicht jede Schulabgängerin und jeder Schulabgänger einen Ausbildungsplatz. Alarmierend ist insbesondere die Situation in den neuen Bundesländern. Hier liegt die Zahl der unversorgten Jugendlichen, der außerbetrieblichen Ausbildungsplätze und der Jugendlichen in Warteschleifen am höchsten - die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze am niedrigsten. Die Arbeitgeber haben ihre Zusagen aus dem Ausbildungskonsens im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit jedes Jahr nicht eingehalten. Unternehmen, die nicht ausbilden, handeln wirtschaftlich und sozial verantwortungslos. Sie handeln zu Lasten der Jugendlichen, der ausbildenden Betriebe und auf Kosten der Allgemeinheit.

 

Wir bleiben daher bei unserer Forderung, mit Hilfe einer gesetzlichen Umlagefinanzierung, die alle Arbeitgeber in die Pflicht nimmt, ein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen zu gewährleisten. Sie stellt nicht nur einen solidarischen Lastenausgleich zwischen ausbildenden und nichtausbildenden Betrieben her, sondern ermöglicht auch eine umfassende Qualitätssicherung in der beruflichen Bildung.

 

Eine Reform des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) ist notwendige Konsequenz aus den dramatischen Veränderungen in der Arbeitswelt, der anderen Situation der beruflichen Bildung, der spezifischen Entwicklung in den neuen Bundesländern und nicht zuletzt auch mit Blick auf die europäische Integration ist dieses Gesetz nach über 30 Jahren überfällig. Reformziele müssen dabei die Verbreiterung und Vertiefung der Standards, Qualitätssicherung und der Demokratisierung sein. Die Berufsausbildungsvorbereitung muss dringend verbessert und in den Geltungsbereich des BBiG aufgenommen werden.

 

 

Verzahnung von Aus- und Weiterbildung

 

Eine gute Berufsausbildung allein reicht angesichts des rasant anhaltenden Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft nicht  aus, um dauerhaft die Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten. Deshalb sollte, wie bei den Erfolgsmodellen der neugeschaffenen IT- und Medienberufe, von Anfang an auch eine geordnete berufliche Weiterbildung mit gedacht und erarbeitet werden. Dabei wird informelles Lernen und arbeitsprozessorientierte Weiterbildung auch für Seiteneinsteiger einen  höheren Stellenwert erhalten. Über Zusatzqualifikationen in der beruflichen Erstausbildung kann die überholte Trennung zwischen Aus- und Weiterbildung durchlässiger  werden.

 


Weiterbildung ausbauen

 

Zunehmend entscheidet berufliche Weiterbildung mit über die Sicherheit des Arbeitsplatzes, Chancen auf gutes Einkommen, die beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten und die Qualität der Arbeit. In dem Maß, in dem damit Lebensperspektiven mitbestimmt werden, begrenzt der Ausschluss von den Weiterbildungsmöglichkeiten die individuellen Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Teilhabe an oder Ausgrenzung von Weiterbildung wird also zur neuen sozialen Frage.

 

Gewerkschaften haben auch deshalb die Qualifizierungspolitik wieder stärker in den Focus ihrer Tarifpolitik genommen und werden die betrieblichen Interessenvertretungen bei der Nutzung der durch die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes hinzu gewonnen Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsrechte unterstützen. Das allein wird aber nicht ausreichen, um eine neue Weiterbildungskultur aufzubauen.

 

Berufliche Weiterbildung muss auch als Bestandteil der aktiven Arbeitsmarktpolitik für Arbeitslose, Ungelernte und von Arbeitslosigkeit Bedrohte beibehalten und ausgebaut werden. Sie ist Teil des erforderlichen Ausbaus des Gesamtsystems der beruflichen Weiterbildung, der für die Bewältigung der - durch Themen wie Globalisierung von Produkten, Märkten und Finanzströmen, Strukturwandel durch die Informationstechnologien, Dynamik des Beschäftigungssystems, Entwicklung hin zur Wissensgesellschaft gekennzeichneten - Umbrüche in der Arbeitswelt entscheidend ist.

 

Stellenwert der beruflichen Aus- und Weiterbildung stärken

 

Berufliche Bildung muss zukünftig den selben bildungspolitischen Stellenwert wie Allgemeinbildung haben. Deshalb ist sie in ihrer Wertigkeit allgemeinbildenden Abschlüssen gleichzustellen. So sollen qualifizierte Erstausbildungen zum Hochschulzugang berechtigen und qualifizierte Weiterbildungen (Fach-)Hochschulabschlüssen gleichgestellt werden. Das schafft mehr Durchlässigkeit zwischen den Bildungssystemen und mehr Chancen zum lebenslangen Lernen.

 

 

 

Bildung für Wachstum und sozialen Zusammenhalt

 

Die Nachfrage nach geringqualifizierten Arbeitskräften ist aufgrund von Rationalisierungsprozessen in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen – diese Entwicklung wird sich auch in den kommenden Jahren fortsetzen und weiter beschleunigen.

 

Wer glaubt, durch eine noch weiterreichende Lohnspreizung die Arbeitslosigkeit gering qualifizierter Personen zu vermindern und die notwendige Expansion des Dienstleistungssektors zu erreichen, der wird enttäuscht werden. Eine Niedriglohnstrategie vermindert - sozusagen als „Kosten der Deregulierung“ – Anreize zur Qualifizierung bei Unternehmen und Beschäftigten, verringert Wachstum und gefährdet sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

 

 

Bundesregelungen zur Weiterbildung schaffen

 

In einer auf Qualifikation, Innovation und Chancengleichheit orientierten Gestaltungsstrategie für die Arbeitsgesellschaft der Zukunft ist der Ausbau der Weiterbildung unverzichtbar. In einem ersten Schritt ist deshalb ein Bundesgesetz für die berufliche Weiterbildung zu schaffen, das einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung für alle garantiert. Dieses Rahmengesetz soll den Zugang zur Weiterbildung für alle sichern, für die Herstellung institutioneller Verlässlichkeit sorgen, Transparenz herstellen und die Beratung absichern sowie für Gleichwertigkeit der beruflichen und allgemeinen Bildungsabschlüsse sorgen. Schließlich sollen arbeitsmarktfähige Abschlüsse vorgesehen, Lernzeitansprüche abgesichert und klare Finanzierungsregelungen geschaffen werden.

 

Informationen über die Qualität der Weiterbildung und ihrer Verwertbarkeit zählen zu den wichtigsten Kriterien bei Bildungsentscheidungen. Darum gilt es, Qualitätsstandards zu entwickeln und zu sichern. Diese sind auf engste verknüpft mit der Professionalität der Weiterbildungsprozesse. Zu den zu entwickelnden Qualitätskriterien zählen auch ein angemessenes Verhältnis von haupt- und nebenberuflichem Personal, dessen fachliche und pädagogische Qualifikation und die tariflichen Arbeitsbedingungen.

 

 

 

 

Weiterbildung als öffentliche Aufgabe

 

Der SGB III-geförderte Teil der beruflichen Weiterbildung, der sich vorwiegend um die vom Strukturwandel betroffenen Arbeitslosen kümmert, hat eine besondere Bedeutung. Die Reintegration in das Erwerbsleben darf nicht auf die Einzelnen abgewälzt oder privatwirtschaftlichem Nutzen untergeordnet werden. Die damit verbundenen Aufgaben müssen vielmehr durch eine regulierende Stelle in öffentlicher Verantwortung (Selbstverwaltung) koordiniert werden.

 

Darüber hinaus sind im Sinne von „Beschäftigungssicherung“ vier Interventionsstadien für öffentlich geförderte Qualifizierung vorzusehen:

 

·         präventive Förderung für Beschäftige und Betriebe

·         pro-aktive Intervention bei drohendem Arbeitsplatzverlust

·         frühzeitige Förderung bei Eintritt in Erwerbslosigkeit

·         unterstützende Förderung bei Verfestigung der Erwerbslosigkeit.

 

 

 

 

Die schiere Ökonomisierung der Bildung verhindern - Bildung sozial gestalten

 

Angesichts der Bedeutung von (beruflicher) Bildung für jede/n Einzelne/n darf Bildung nicht zur x-beliebigen Ware verkommen. Die in den GATS-Verhandlungen angestrebte weltweite Öffnung, Liberalisierung und Privatisierung der „Bildungsmärkte“ führt schon jetzt zu erschreckenden Vorschlägen. Anstatt die öffentliche Daseinsvorsorge im Bildungssektor auszubauen und damit Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit zu ermöglichen, droht, wie beispielsweise durch den Hamburger Senat jetzt vorgeschlagen, eine weitere Entstaatlichung des Bildungswesens durch die Privatisierung der Berufsschulen.


Bildung droht immer stärker eine Frage von Einkommen, Herkunft, und reinen Kosten- Nutzen-Kalküls zu werden.

 

Diesen Tendenzen treten die Gewerkschaften mit ihrer Forderung der Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit im Bildungswesen entgegen.

 

 

Wir erwarten aber auch, dass die (zukünftige) Bundesregierung konsequent diesen negativen Bestrebungen entgegenwirkt.

 

Wir Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz treten ein

 

Für mutige Reformen in der Berufsbildungspolitik