IG Metall Pressedienst 61/2012

IG Metall Pressedienst

23.07.2012 IG Metall: Große Diskrepanz zwischen Qualifikation und ausgeübten Tätigkeiten - Fast ein Fünftel der Beschäftigten unterhalb vorhandener Qualifikation beschäftigt - Fernsehberichterstattung

Fast ein Fünftel aller Erwerbstätigen in Deutschland mit abgeschlossener Berufsausbildung (Facharbeiter) oder Hochschulstudium sind unterhalb ihrer erworbenen Qualifikation beschäftigt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Universität Hohenheim im Auftrag der IG Metall Baden-Württemberg. Das Ergebnis wurde heute unter dem Titel "Grenzen der Bildungsexpansion? Ausbildungsinadäquate Beschäftigung von Ausbildungs- und Hochschulabsolventen in Deutschland" in Stuttgart vorgestellt.

Die Studie beinhaltet verschiedene Untersuchungsansätze, die bestätigen, dass bei vielen Beschäftigten ein bedeutender Teil der während der Ausbildungsphase angeeigneten beruflichen Fertigkeiten und Kenntnisse ungenutzt bleiben. Gemäß der so genannten HIS-Absolventbefragung bewerten nur 45 Prozent der Hochschulabsolventen mit einem Bachelorabschluss in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) ihre ausgeübte Tätigkeit bezogen auf Inhalt und Anforderungsniveau als voll adäquat zu ihrer Ausbildung (gegenüber 79 Prozent mit einem Master/Diplom in den MINT-Fächern).
34,6 Prozent der Schlosser und Werkzeugmacher arbeiten laut IAB an einem Arbeitsplatz, der als nicht fachadäquat einzustufen ist. Außerdem kommt die Studie anhand eigener Schätzungen zu dem Ergebnis, dass das Risiko einer unterwertigen Beschäftigung bei befristeten Verträgen und Teilzeitbeschäftigung mit 27,8 Prozent und 22,6 Prozent deutlich erhöht ist (bei einem Durchschnittswert von 17,6 Prozent).

Pressekonferenz

Ursachen für das hohe Ausmaß der Beschäftigung unterhalb des Niveaus der individuellen Qualifikation sowie die ungleiche Betroffenheit gibt es verschiedene. Relevant sind unterschiedliche Verwertungschancen einzelner Ausbildungs- und Studiengänge, aber auch gruppenspezifische Benachteiligungen (z.B. bei Personen mit Migrationshintergrund) oder atypische Beschäftigungsverhältnisse (Befristungen, Teilzeit, Mini-Jobs).
Relevant sind aber insbesondere auch Arbeitsorganisation und Personalpolitik, die vorhandene Qualifikationen nicht nutzen und entwickeln. Beispiele hierfür sind: Der Ingenieur der nicht entwickelt, sondern durch Routineaufgaben in der Verwaltung oder der Fertigung ge-bunden ist. Der Facharbeiter dessen ursprüngliche Qualifikation an Wert verliert, da er keine Weiterbildung erhält.

"Diese wichtige und innovative Untersuchung weist auf beträchtliche ungenutzte und damit gefährdete Qualifikationsreserven hin", so Jörg Hofmann, IG Metall-Bezirksleiter in Baden-Württemberg. Mit Blick auf die aktuelle Fachkräftedebatte wird die Brisanz des Themas unterstrichen. "Die Beschäftigten müssen stärker als bisher die Chance erhalten, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten bei der Ausübung ihres Berufes auch tatsächlich einzubringen und weiterzuentwickeln." Ohne ein Umsteuern würde man die Bemühungen in den Fragen von Aus- und Weiterbildung ins Leere laufen lassen.

Rolf Schumacher, Ministerialdirektor im Ministerium für Finanzen und Wirtschaft sagte: "Die politische Relevanz des Themas unterwertige Beschäftigung ist nicht zu verneinen. Die Landesregierung hat den Anspruch, Baden-Württemberg zum Musterland für gute Arbeit zu machen. Dazu gehört auch, dass Beschäftigte ihren Qualifikationen gerecht eingesetzt werden. Das ist gerade für die Sicherung des Fachkräfte-Angebots wichtig, denn Fachkräftesicherung heißt, alle Potentiale voll auszuschöpfen und keine Qualifikationen ungenutzt zu lassen. Eine zentrale Handlungsempfehlung der Studie ist die Stärkung der betrieblichen Weiterbildung. Die umfassende Verankerung der beruflichen Weiterbildung in den Betrieben, aber auch bei den Beschäftigten, ist auch ein wichtiges Ziel unserer Fachkräfte-Allianz."

Der Autor der Studie, Ralf Rukwid von der Universität Hohenheim, betonte: "Die Untersuchungen ergeben, dass in Deutschland mehr als jede sechste Arbeitskraft mit einem berufsqualifizierenden Bildungsabschluss als unterwertig beschäftigt bzw. überqualifiziert einzustufen ist (17,6 Prozent). Bei den Akademikern liegt der Anteil aktuell etwas höher als bei den Nicht-Akademikern (18,9 Prozent gegenüber 17,2 Prozent im Jahr 2010). Zudem hat sich der Anteil der unterwertig beschäftigten Akademiker seit Mitte der 1980er Jahre deutlich erhöht. Die Befunde deuten demnach sowohl auf Ebene der Hochschul- als auch der Ausbildungsabsolventen auf beträchtliche Qualifikationsreserven hin. Diese ungenutzten Reserven sind als problematisch anzusehen - sowohl für die individuell Betroffenen als auch die Volkswirtschaft insgesamt."

Hofmann sieht deshalb Handlungsbedarf in vier Feldern:
(1) Befristungen, Leiharbeit, Minijobs und Teilzeit führen zu einem erhöhten Risiko der schwerwiegenden Dequalifizierung der Beschäftigten. Deshalb müssen diese Beschäftigungsformen soweit möglich zurückgedrängt werden. Die nach wie vor offensichtliche Diskriminierung von Beschäftigten mit Migrationshintergrund muss überwunden, die Arbeitsmarkt- und Karrierechancen von Frauen verbessert werden. Beide Gruppen stellen ein großes Reservoir an Fachkräften dar, welches an seiner Entfaltung gehindert wird.

(2) Die Erkenntnisse über die Passung von Ausbildung und Beschäftigung müssen stärker als bisher in die Berufsorientierung einfließen. So gilt es, für die Bereiche mit vergleichsweise guten Perspektiven (z.B. MINT-Studium oder technische Berufe) zu werben sowie die notwendigen Ressourcen für die Erweiterung der Ausbildungskapazitäten in Betrieben, Berufs- und Hochschulen bereitzustellen.

(3) Gleichzeitig ist dafür Sorge zu tragen, dass die Aufstiegsmobilität am Arbeitsmarkt und im Betrieb gestärkt wird. Notwendig ist dazu in einem ersten Schritt die Erfassung der Kompetenzen und Fähigkeiten sowie darauf aufbauend die Eröffnung von betrieblichen Entwick-lungsmöglichkeiten. Erworbene Qualifikation muss auch durch Weiterbildung erhalten bleiben. Beides scheitert heute in der Mehrzahl der Betriebe an einer fehlenden systematischen Weiterbildung und Personalentwicklung.

(4) Die Arbeitsorganisation muss auf die vorhandenen Kompetenzen aufbauen und deren Weiterentwicklung fördern. Zu oft werden dagegen Arbeitsinhalte nicht qualifikationsgerecht gestaltet, indem Ratio-Strategien auf eine weitgehende Arbeitsteilung setzen, oder die Arbeitsaufgabe mit qualifikationsfremden Tätigkeiten überhäuft wird.

Die gesamte Studie ist im Internet zu finden unter: http://www.bw.igm.de/news/meldung.html?id=53049

Letzte Änderung: 24.07.2012