Überlegungen für eine Reform der beruflichen Ausbildung

 

 

von Martin Allespach

 

IG Metall Bezirksleitung Baden-Württemberg

 

 

 

Eine qualifizierte berufliche Erstausbildung ist sehr eng verbunden mit den Perspektiven der Beschäftigten. Auch für die Zukunft halten wir deshalb an der Beruflichkeit fest. Berufliche Arbeitsmärkte sind flexibler als betriebliche; sie erhöhen die Mobilität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und stellen eine solides Fundament  für deren weitere berufliche Entwicklung dar. Gleichwohl gilt es, die Beruflichkeit unter den Bedingungen der Wissensgesellschaft und der zugenommenen Flexibilität weiterzuentwickeln.

 

Während eine Modularisierung für die Weiterbildung durchaus sinnvoll sein kann, um Veränderungen in den Qualifikationsanforderungen auch formell abzubilden und für alle verfügbar zu machen, lehnen wir das Modulkonzept für die  Erstausbildung ab. Es folgt vom Grundsatz her einer Anpassungs- und nicht der von uns geforderten Gestaltungslogik i.S. von Befähigung zur Mitgestaltung der Arbeitswelt in ökonomischer, sozialer und ökologischer Verantwortung.

 

Ein wesentlicher Punkt, der meist nur noch plakativ diskutiert jedoch real zusehends immer weniger ein Maßstab darstellt, bezieht sich auf den Zusammenhang von Beruflichkeit, Ausbildungsqualität und Subjektbildung. Subjektbildung i.S. des souveränen, selbstbewußten Bürgers und Kollegen, die für ihre Interessen, ihre bewusste Lebens- und Arbeitsgestaltung eintreten und zwar i.S. nicht des individualisierten, sondern des gesellschaftsfähigen und mit anderen gesellschaftsgestaltenden Subjekts.

 

Eine Reform der beruflichen Ausbildung ist unabdingbar, um auch zukünftig in einer qualifizierten Ausbildung berufliche Handlungskompetenz sicher zu stellen. Bei den nachfolgenden Thesen einer solchen Reform nehme ich ausschließlich auf solche Punkte Bezug, bei denen m.E. ein grundsätzlicher Handlungsbedarf angezeigt ist. Mir ist bewusst, dass damit nur einige Facetten angesprochen werden und ein gewerkschaftliches Konzept beruflicher Bildung wesentlich umfänglicher sein muss.

 

 

1.) Berufe sind in weiten Teilen noch zu stark funktionsorientiert und vernachlässigen das gesellschaftsfähige und gesellschaftsgestaltende Subjekt

 

Der mit einer funktionsorientierten Arbeitsorganisation einhergehende hohe Grand an Arbeitsteilung und -zergliederung (Taylorisierung) findet sich auch in bestehenden Berufsstrukturen wieder. Die Überlagerung und Rücknahme von funktionsorientierten Arbeitsteilungen durch geschäfts- und arbeitsprozessorientierte Organisationsstrukturen legt eine deutliche Reduzierung der Anzahl der Berufe und ihr Verschmelzen zu Kernberufen nahe. Es gilt deshalb, die Zahl der Ausbildungsberufe weiter zu reduzieren und dafür ihre Weite zu vergrößern. Eine weitere Spezialisierung der Berufe ist nicht sinnvoll. In diesem Kontext käme man mit einem Elektro- und zwei bis drei Metallberufen ohne weiteres aus.

Kernberuflichkeit geht von der ganzheitlichen beruflichen Handlungsfähigkeit aus (Arbeitsprozesswissen) und berücksichtigt neben der Fachlichkeit auch soziale, methodische und personale Kompetenzen.

 

Kernberufe stellen eine breite Ausgangsbasis für die beruflichen Karrierewege dar. Sie bilden ein neues Fundament für eine enge Verzahlung mit einer modularisierten Fort- und Weiterbildung.

 

 

2.) Die Neuordnungsverfahren bedürfen einer Beschleunigung und Professionalisierung; dazu sind die Facharbeiter als Experten einzubeziehen.

 

Wir leben in einer Zeit des schnellen Wandels und einer deutlich gestiegenen Innovationsdynamik. Um möglichst zeitnah solche Prozesse in den Ausbildungsordnungen abbilden zu können, ist ein beschleunigtes und stärker professionalisiertes Ordnungsverfahren unverzichtbar. Dabei gilt es, i.S. einer beteiligungsorientierten Analyse von Fach- und Sacharbeit das arbeitsprozessbezogene Wissen zu erfassen und in eine curriculare Form zu bringen. Die Beschäftigten vor Ort in den Fabriken, an den unmittelbaren Arbeitsplätzen in Verwaltung und Produktion, werden zu wenig als „Experten der Arbeit“ in die Neuordnung und Umsetzung der Neuordnung einbezogen. Das Leitprinzip „Beteiligung“ bekommt dadurch eine neue Qualität. Dieses Expertenwissen könnte prozessbezogen in Workshops von den Facharbeitern als Experten in eigener Sache ermittelt und den Sozialpartnern  für die Neuordnung vorgeschlagen werden.

 

Das Konsensprinzip bei der Entwicklung und Neuordnung von Berufen hat sich als ein praktisches Verfahren bewährt; es stellt darüber hinaus sicher, dass nicht gegen die Arbeitnehmerinteressen eine Berufsbildungspolitik durchgesetzt werden kann, die letztendlich unsere Ansprüche an eine zukunftsgerichtete, die berufliche Handlungskompetenz sichernde und die Persönlichkeitsbildung wahrende Ausbildung zu wider läuft. Trotz allem, auch die Berufsbildung ist nach wie vor von Interessensgegensätze tangiert.

 

 

3.) Ausbildung in Lehrwerkstätten sind konstruierte Wirklichkeiten

 

Die Qualität der Ausbildung ist nicht allein vom Lernort abhängig, wird von ihm aber dennoch sehr stark beeinflusst. Die Verschulung der Ausbildung in betrieblichen Lehrwerkstätten wurde in vielen Fällen auf die Spitze getrieben. Berufliches Lernen kann unter entsprechenden Rahmenbedingungen und didaktisch aufbereitet auch dezentral im Prozess der Arbeit stattfinden. Ein stärkerer Praxisbezug kann sogar zur Qualitätssteigerung der Ausbildung beitragen, da sich eine ganzheitliche Kompetenzentwicklung am deutlichsten und nachhaltigsten in ganzheitlichen Arbeitsprozessen vollzieht. Hierzu gilt es entsprechende Konzepte zu entwickeln und die Schnittstelle sowie die Rolle, die die Lehrwerkstätten nach wie vor besitzen, neu zu definieren. Die These von der Bedeutungslosigkeit formeller Lernprozess, wie sie von Staudt formuliert wird, halten wir aber für starken Tobak. Sie  stellt eine fatale Unterschätzung formaler Bildung dar; Innovations- und Arbeitsprozesse werden mystifiziert und ihnen wird quasi naturwüchsig Lernhaltigkeit unterstellt. Dies erscheint problematisch; das Berufsprinzip des deutschen  Arbeitsmarktes würde ausgehöhlt, wenn der durch wachsende Innovationsprozesse wachsende Bestand an impliziten Wissen nicht in berufliche Aus- und Weiterbildung einfließen würde.

 

Lernen im Prozess der Arbeit heisst für uns, für lernförderliche Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen zu sorgen.

 

 

4.) Eine moderne Berufsbildung braucht innovative Strukturen

 

Die Kammern sind zuständig für die Überwachung und Durchführung der Berufsbildung. Die Praxis zeigt, dass sie dieser Funktion vielfach mehr schlecht als recht nachkommen. Für eine moderne Berufsbildung sind Kammern dysfunktional. Hinzu kommt, dass im Rahmen dieser Institution eine Mitbestimmung nur bedingt möglich ist (vgl. die Auseinandersetzung gem. § 58 (1) BBiG).

Anstelle der Kammern ist ein Landesamt für Berufsbildung zu schaffen. Die Kammern als zuständige Stellen verlieren damit diese Aufgabe. Das Landesamt für Berufsbildung trifft Regelungen für die Durchführung der Berufsbildung. Zu den Aufgaben muss auch eine qualitativ hochwertige Beratung der Betriebe in didaktischer und methodischer Hinsicht und vor allen Dingen eine kontinuierliche Evaluierung des Ausbildungsgeschehens gehören. Dem kommen die Kammern nicht nach.

 

 

5.) Die Berufsschule muss sich vom Anhängsel der Berufsausbildung zum regionalen Bildungsdienstleister für die Aus- und Weiterbildung entwickeln

 

Der im Rahmen der Neuordnung der Metall- und Elektroberufe verabredete gemeinsame Berufsbildungsplan ist ein erster Schritt für eine verbesserte Lernortkooperation. Damit beide Lernorte - Berufsschule und Betrieb -  aber verantwortlich, gleichberechtigt und kooperativ i.S. einer qualifizierten Ausbildung zusammenwirken können, ist eine Dezentralisierung notwendig. Diese muss eingebettet sein in einen institutionalisierten regionalen Berufsbildungsdialog. Die Berufsschulen werden zu regionalen Kompetenzzentren beruflicher Bildung, die von den Sozialpartnern getragen werden. Mit der größeren Verantwortung der Schulen sind alle Rechte und Pflichten verbunden, z.B. die volle Unterrichtsversorgung sicherzustellen. Der Unterrichtsausfall an Schulen aufgrund der Lehrerunterversorgung ist eine einzige Katastrophe. Die Berufsschulen müssen sich im Rahmen einer erweiterten Autonomie auch selbständig Personal beschaffen können.

Der Zugang zum "Schuldienst" muss auf vielerlei Weise möglich sein: Durch ein grundständiges Berufsschullehrerstudium, durch ein Berufungsverfahren, bei dem auch Experten aus der Praxis eingestellt werden können mit der Möglichkeit der pädagogischen Zusatzqualifikation und im Rahmen von Lehraufträgen.

 

 

6.) Prüfungen sind vielfach zu abstrakt und zu finalorientiert; sie müssen zukünftig stärker kontinuierlich und kontextabhängig sein

 

Die heutigen Prüfungen können nur bedingt berufliche Handlungskompetenz abbilden. Sie sind Kontextunabhängig und bleiben damit häufig abstrakt. Es wird auf die Prüfung gebüffelt - und das war es dann. Wenn man das Arbeitsprozesswissen mit berücksichtigen will, kann dies am sinnvollsten an praktischen Aufgaben geschehen.

Es bleibt zu Fragen, ob Prüfungen zu einem bestimmten Zeitpunkt zukünftig noch diese Bedeutung haben müssen, oder ob der Prüfungsprozess nicht kontinuierlich organisiert werden kann. Dabei muss sichergestellt sein, dass die im Ausbildungsplan formulierten Ziele und Inhalte tatsächlich auch vermittelt werden.

Nach Vorlage des Zeugnisses der Ausbildungsstätte und des Zeugnisses der Berufsschule könnte etwa der Prüfungsausschuss entscheiden, ob der erfolgreiche Berufsabschluss bescheinigt werden kann. Eine separate Prüfung könnte auf Verlangen des Azubis  durchgeführt werden.

 

 

7.) Die Kompetenzerweiterung der haupt- und nebenamtlichen Ausbildungspersonals ist längst überfällig.

 

Die Ausbilder können oftmals mit den Entwicklungen nicht Schritt halten. Die Ausbildereignungsverordnung (AEVO) bietet keine ausreichende Qualifikation. Sie beschränkt sich im wesentlichen auf Angaben zu Form und Inhalt des Nachweises der Ausbildereignung und bleibt viel zu oberflächlich. Eine Professionalisierung  des Ausbildungspersonals ist angesichts der Herausforderungen einer qualifizierten und modernen Ausbildung dringend notwendig. Die berufspädagogische Professionalisierung verweist einerseits auf eine Institutionalisierung (z.B. an Universitäten oder den o.g. Kompetenzzentren für Berufsbildung oder beim Landesamt für Berufsbildung) und Formalisierung (Weiterbildungsabschlüsse), zum anderen aber auch auf Möglichkeiten und Freiräume, damit die Ausbilder den Weiterbildungserfordernissen auch nachkommen können.

 

 

8.) Eine qualifizierte Ausbildung - ein Recht für alle Jugendlichen

 

Die Berufsausbildung muss wesentlich stärker als bisher die unterschiedlichen Voraussetzungen der Auszubildenden berücksichtigen. Nur durch eine stärkere Differenzierung bleibt das duale System attraktiv. Dabei muss das Recht auf eine qualifizierte Ausbildung für alle Jugendlichen durchgesetzt werden. Jede/r muss die Möglichkeit haben, einen vollwertigen, qualifizierten und den o.g. Kriterien entsprechenden Berufsabschluss zu erwerben - die Wege dorthin können freilich unterschiedlich sein. Schmalspurausbildungen und Teilqualifikationen sind abzulehnen.

 

 

9.) Berufsakademien und duale Studiengänge sind eine sinnvolle Ergänzung zum dualen Berufsbildungssystem einerseits und zur wissenschaftlichen Ausbildung an Fachhochschulen und Universitäten andererseits

 

Es gilt das System des dualen Studiums weiterzuentwickeln; dabei müssen Mitbestimmungsrechte für Ordnung und Ausgestaltung analog Berufsbildungssystem verankert und tarifliche Regelungen vereinbart werden. Diese müssen den besonderen Interessen der Zielgruppe gerecht werden.