Berthold Huber / Martin Allespach
Weiterbildung als tarifpolitische Gestaltungsaufgabe
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Der Tarifvertrag zur Qualifizierung in
Baden-Württemberg
Märkte und Produkte haben sich in den letzten Jahren
tiefgreifend verändert. Globalisierung, eine sich immer rasanter entwickelnde
Innovationsdynamik sowie der immer deutlicher werdende Trend in die Wissens-
und Informationsgesellschaft gehören zu den Megatrends unserer heutigen Zeit.
Es gibt verschiedene arbeitspolitische Strategien, sich den daraus erwachsenden
Herausforderungen zu stellen.
Eine, unserer Meinung nach restriktive
Strategie besteht darin, den Faktor Mensch möglichst kostenoptimal zu verplanen.
Eine Leistungsoptimierung soll im Kern durch Arbeitsintensivierung erreicht
werden.
Eine andere, progressive und nachhaltige
Strategie, sich den o.g. Megaentwicklungen zu stellen, besteht in einer
Neubewertung des Menschen in der Produktion. Menschliche Qualifikationen und
Kompetenzen sollen bewusst genutzt und zur Entfaltung gebracht werden.
Berufliche Kompetenzen bestimmen ganz wesentlich die
Arbeits- und Entwicklungsbedingungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Qualifikationen entscheiden zunehmend mehr über die Beschäftigungsfähigkeit.
In einer knowledge based Economy gewinnt Weiterbildung aber auch unter ökonomischen
Gesichtspunkten an Bedeutung. So spricht das Stuttgarter Frauenhofer Institut
für Arbeitsorganisation etwa davon, dass heute bereits ca. die Hälfte der
Wertschöpfung auf die Faktoren Wissen und Erfahrung zurückgehen - mit steigender
Tendenz.
Gemessen an den Erfordernissen der Wissens- und
Informationsgesellschaft ist die Praxis der betrieblichen Weiterbildung mehr
als bescheiden. Dies belegt eine Untersuchung, die die IG Metall Bezirksleitung
Baden-Württemberg Anfang 2001 durchgeführt hatte (vgl. Allespach / Heimann
2001). Während lebenslanges Lernen zunehmend einer unausweichlichen
Sachzwanglogik folgt, gab es für die Beschäftigten bisher keine Garantie, tatsächlich auch Zugänge zum Lernen
zu erhalten bzw. in organisierte Lernprozesse integriert zu werden.
Defizite in der betrieblichen
Weiterbildungspraxis
Weiterbildung ist keineswegs für alle Beschäftigten
gleichermaßen erreichbar. Die Chancen, an Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen,
sind abhängig von Faktoren wie Alter, Geschlecht, der Nationalität, dem
Qualifikationsniveau und der Betriebsgröße. Betrieblich veranlasste
Weiterbildung ist v.a. für un- und angelernte Arbeiter und für ältere
Arbeitnehmer eher eine Fata-Morgana, als erreichbare Realität. Die ist
angesichts der beschäftigungs- und qualifikatorischen Erfordernissen, denen
sich v.a. diese Beschäftigtengruppen im Arbeitmarkt und in der Branche stellen
müssen, alarmierend.
Die Halbwertszeit des Wissens wird immer kürzer, neue
Informationen verändern die Betriebe; eine berufsfachliche Qualifizierung
(Basisqualifikation) wird damit vor allem für ältere Arbeitnehmer unerlässlich.
Die Altersstruktur in der Metall- und Elektroindustrie
wird sich dramatisch verändern. Während 1990 der Anteil der 45 – 64jährigen 36
% betrug, werden es im Jahr 2010: 53 % sein. Die Veränderung muss zu neuen
Anforderungen in der betrieblichen Weiterbildung führen, in dem die Entwicklung
von Kompetenz nicht auf die ersten Berufsjahre beschränkt bleiben, sondern ein
lebenslanger Prozess ist, der v.a. für ältere Beschäftigte von enormer
beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischer Bedeutung ist. Das beweist auch ein
Blick in die Arbeitslosenstatistik: Der Anteil der Beschäftigten 50 Jahre und
älter beträgt in Baden-Württemberg fast 40 Prozent.
Brisanz hat das Qualifizierungsthema auch für die An-
und Ungelernten. Alle Prognosen deuten darauf hin, dass sich die Zahl der
Arbeitsplätze für Un- und Angelernte in den nächsten Jahren dramatisch
verringern werden. Auch in diesen Fällen hat Weiterbildung unmittelbar eine
beschäftigungspolitische Dimension. Fehlende Qualifizierungschancen wirken sich
verheerend aus.
Die
Ergebnisse der Befragung der IG Metall im Bezirk Baden-Württemberg unterstrichen
die Notwendigkeit eines chancengleichen Zugangs zur Weiterbildung. Dieser
entsteht nicht etwa naturwüchsig oder zwangsläufig, sondern bedarf konkreter
und verbindlicher Ansprüche und der Stärkung der Betriebsräte bei der
Durchsetzung der Qualifizierungsinteressen der Beschäftigten.
Unsere
Umfrage hat noch einen weiteren gravierenden Tatbestand ans Licht gebracht. Nur
in 38 Prozent der Betriebe gibt es eine systematische Qualifizierungs- und/oder
Personalplanung. Eine deutliche Mehrheit der Befragten antworteten auf
die Frage, nach einer gezielten Personalentwicklung und Weiterbildungsplanung mit
einem klaren Nein, diese gebe es nicht.
Die
Befunde der IG Metall-Umfrage zeigen, wie sorglos die Unternehmen bisher mit
ihrer wichtigsten Ressource dem Humankapital umgegangen sind und welche Risiken
für die Beschäftigten damit hinsichtlich ihrer beruflichen
Entwicklungsmöglichkeiten und Arbeitsplatz- sowie Beschäftigungssituation
verbunden sind.
Die Arbeitsgesellschaft
solidarisch gestalten -
tarifpolitische
Qualifizierungs-Initiative der IG Metall in Baden-Württemberg
Auf einer Klausur der Großen Tarifkommission der
Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg im Oktober 2000 wurde eine
Entschließung verabschiedet, die den Titel trägt: „Für eine moderne und
solidarische Arbeitsgesellschaft“. Darin wurde der Anspruch der IG Metall
formuliert, die Zukunft der Arbeitsgesellschaft aktiv mitzugestalten. Neben
einer offensiven Verteilungspolitik und aktiven Beschäftigungspolitik ist
zentrales Ziel dieses Gestaltungsanspruchs die Durchsetzung einer nachhaltigen
Arbeitspolitik. Eine solche nachhaltige Arbeitspolitik zielt „auf die
Nutzung und Erweiterung der Qualifikations- und Erfahrungspotenziale der
Beschäftigten während ihres ganzen Arbeitslebens. Der Ausschluss von
Gesundheitsgefährdung durch die Arbeit ist dafür Voraussetzung. Entsprechend
sind die Arbeits- und Leistungsbedingungen wie Arbeitszeiten zu gestalten. Dies
erfordert eine wirksame Beteiligung der Beschäftigten an der Gestaltung und
Festlegung ihrer Arbeitsaufgaben, bei Arbeitzeitmodellen und der von ihnen
abgeforderten Leistung. Sie hat auf den Schutz derer zu achten, die aufgrund
ihrer Ausbildung, ihres Geschlechts oder ihrer gesundheitlichen Einschränkungen
von Ausgrenzung und Diskriminierung bedroht sind.“ (Entschließung der Großen
Tarifkommission Baden-Württemberg vom 25.10.2000). Damit wurde eine
progressiv-nachhaltige Arbeitspolitik, wie wir sie einleitend skizziert haben,
auf die tarifpolitische Agenda gesetzt. Als zentrales arbeitspolitisches
Handlungsfeld fiel dabei der Kompetenzentwicklung der Beschäftigten eine
wichtige Bedeutung zu. Die Kernforderungen der IG Metall im Bezirk
Baden-Württemberg in der Tarifrunde 2001 bezogen sich auf die Durchsetzung
eines Reklamationsrechts bei der Leistungsüberlastung für Beschäftigte aus dem
Zeitlohn und der Angestellten, der bessere Schutz von einsatzeingeschränkten Beschäftigten
und - ausgehend von den o.g. gravierenden Defiziten in der betrieblichen Praxis
- deutlich verbesserte tarifliche Regelungen zur beruflichen Weiterbildung, insbesondere
was den Anspruch jedes Beschäftigten auf eine Qualifizierungsvereinbarung zur
Festlegung des Qualifizierungsbedarfs und den daraus resultierenden
Qualifizierungsmaßnahmen betrifft.
Die Tarifrunde war eingebettet in die Kampagne „gute
arbeit“, bei der u.a. in über 370 Betrieben die Praxis der Weiterbildung auf
den Prüfstand gestellt wurde (zu den Ergebnissen siehe oben). Insgesamt
beteiligten sich über 200 000 Kolleginnen und Kollegen an Warnstreiks. Über ein
dreiviertel Jahr lang wurden in den Betrieben und Verwaltungsstellen, auf
Betriebs- und Funktionärsversammlungen, unter Beschäftigten, Betriebsräten und
Vertrauensleuten, intensiv die Themen Qualifizierung und Leistung besprochen
und diskutiert.
Der Tarifvertrag zur
Qualifizierung in der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württembergs
Am 19. Juni 2001 konnte der Tarifvertrag zur
Qualifizierung durchgesetzt werden. Nachfolgend möchten wir diesen kurz
skizzieren. Neben dem Tarifvertrag zur Qualifizierung wurden Eckpunkte zum
Schutz einsatzeingeschränkter Beschäftigter formuliert, die die Basis für
weitere Verhandlungen sind. Weitgehend offen blieben, trotz betrieblichen
Drucks, die Forderungen nach wirksamen Reklamationsrechten bei Leistungsüberlastung.
Der Tarifvertrag zur Qualifizierung unterscheidet
zunächst zwischen betrieblicher und persönlicher Weiterbildung. Während bei der
betrieblichen Weiterbildung die Kostenübernahme durch den Arbeitgeber erfolgt
und die Maßnahmen im Rahmen der bezahlten Arbeitszeit stattfinden, erfolgt bei
der persönlichen Weiterbildung ein Freistellungsanspruch und die Kostenübernahme
durch die Beschäftigten.
Betriebliche
Weiterbildung
im Sinne dieses Tarifvertrages ist:
·
Anpassungsqualifizierung mit dem Ziel, veränderte
Anforderungen im eigenen Aufgabengebiet erfüllen zu können.
·
Erhaltungsqualifizierung mit dem Ziel, die ständige
Fortentwicklung des fachlichen, methodischen und sozialen Wissens im Rahmen des
eigenen Aufgabengebietes nachvollziehen zu können. Dazu gehört auch das
berufliche Basiswissen. Während die Anpassungsqualifizierung einen deutlichen
Anforderungsbezug hat, nimmt Erhaltungsqualifizierung zusätzlich die jeweils
individuelle Qualifikation in den Blick.
·
Qualifizierung zur beruflichen Entwicklung mit dem Ziel,
eine andere gleich- oder höherwertige Arbeitsaufgabe für zu besetzende
Arbeitsplätze übernehmen zu können. Dies gilt insbesondere beim
Wegfall von Arbeitsaufgaben.
Eine Qualifizierungsmaßnahme ist nach dem
Tarifvertrag eine zeitlich, inhaltlich abgegrenzte und beschriebene Maßnahme.
Die Teilnahme an einer Qualifizierungsmaßnahme wird dokumentiert und den
Beschäftigten bestätigt. Dabei können die Beschäftigten ihre eigenen Wünsche
und Vorstellungen einbringen.
Kernpunkt des Tarifvertrags ist der Anspruch jedes
Beschäftigten auf ein regelmäßiges (i.d.R. jährliches) Gespräch mit dem
Arbeitgeber, in dem gemeinsam festgestellt wird, ob und welcher
Qualifizierungsbedarf besteht und in dem die notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen
vereinbart werden. Wird zwischen Beschäftigten und Arbeitgeber kein Einvernehmen über den Qualifizierungsbedarf oder die daraus
resultierenden notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen erzielt, wird diese
Einigung in einem betrieblichen Konfliktlösungsverfahren gefunden (s.u.. Im Rahmen der Gespräche wird bei älteren
Beschäftigten besonders auf deren Basiswissen im eigenen Aufgabengebiet
eingegangen). Anspruch auf eine solche Vereinbarung besteht auch bei der
Rückkehr aus der gesetzlichen Elternzeit.
Zusätzlich können Vorgesetzte, Beschäftigte oder
Betriebsrat Qualifizierungsmaßnahmen vorschlagen. So kann hier in Zukunft das
Initiativrecht nach § 97 BetrVG genutzt werden.
Der Betriebsrat wird mindestens jährlich über den
Qualifizierungsbedarf und die Maßnahmen informiert. Die Umsetzung der
Qualifizierungsmaßnahmen wird mit ihm beraten. Hier schließt auch das
Beratungs- und Mitbestimmungsrecht nach §§ 96 - 98 BetrVG an. Damit hat der
Betriebsrat die Möglichkeit, auch selbständig Qualifizierungsmaßnahmen zu
fordern und durchzusetzen. Für an- und ungelernte Beschäftigte sollen spezielle
Programme vereinbart werden. Darüber hinaus können Vorgesetzte, Beschäftigte
und der Betriebsrat jederzeit zusätzliche Vorschläge für
Qualifikationsmaßnahmen einbringen.
Die
Kosten der beruflichen Qualifizierung trägt, soweit sie nicht von Dritten
übernommen werden, der Arbeitgeber. Die Zeit der Qualifizierungsmaßnahmen gilt
als Arbeitszeit. Qualifizierung außerhalb der vereinbarten täglichen und
wöchentlichen Arbeitszeit wird zuschlagsfrei vergütet.
Die Konfliktlösung in Betrieben ab 300 Beschäftigten
erfolgt in einer Paritätischen Kommission. Hier werden Konfliktfälle bei der
Feststellung des Qualifizierungsbedarfs oder der Vereinbarung der
Qualifizierungsmaßnahmen entschieden. In Betrieben bis 300 Beschäftigten
erfolgt diese Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Ist auch hier
keine einvernehmliche Lösung möglich, wird ein Vertreter der gemeinsamen
Agentur zur Förderung der betrieblichen Weiterbildung hinzugezogen (s.u..
Dieser erhält Stimmrecht).
Die Tarifvertragsparteien schaffen eine gemeinsame
Agentur zur Förderung der beruflichen Weiterbildung. Aufgabe dieser Agentur ist
es z.B.:
·
Bei Betrieben und Beschäftigten das Bewusstsein zu stärken,
dass ständige berufliche Qualifizierung notwendig ist, in dem Bemühen,
Qualifikationspotentiale der Beschäftigten zu nutzen.
·
Weiterbildungsmaßnahmen für un- und angelernte Beschäftigte,
ältere Beschäftigte und Beschäftigte nach Arbeitsunterbrechungszeiten (z.B.
Kindererziehung) zu entwickeln.
·
Den Wandel der Qualifikationsanforderungen durch den
Strukturwandel in der Metall- und Elektroindustrie zu beobachten und
rechtzeitig Maßnahmen vorzuschlagen, die die Beschäftigungschancen der
Beschäftigten nachhaltig fördern und Qualifikationsengpässen gegensteuern.
·
Information und Transparenz bei den außerbetrieblichen
beruflichen Qualifizierungsangeboten zu verbessern.
·
Modelle für die betriebliche Weiterqualifizierung bekannt zu
machen und, soweit sie fehlen, zu entwickeln.
·
Unternehmen und Betriebsräte über das Angebot, Durchführung
und Methoden von Qualifizierungsmaßnahmen, zu beraten. Dies gilt im Besonderen
für eine Beratung kleiner und mittlerer Unternehmen. Hierzu gehört auch die
Beratung bei der Inanspruchnahme von Mitteln der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
·
In Konfliktfällen zur Weiterbildung zur Entscheidung
beizutragen
·
Qualitätsstandards für betriebliche Weiterbildung zu
entwickeln, die Qualität von Weiterbildungseinrichtungen und Maßnahmen zu
begutachten und ggf. zertifizieren.
Beschäftigte
haben unter Wahrung tarifvertraglich festgelegter Ankündigungsfristen nach 5
Jahren Betriebszugehörigkeit Anspruch auf eine, bis zu 3jährige Freistellung
mit gleichzeitiger Wiedereinstellungszusage zur persönlichen beruflichen
Entwicklung. Für Betriebe mit weniger als 50 Beschäftigte gilt dieser Anspruch
nicht.
Besonderes Augenmerk wurde auf die
berufliche Entwicklungsmöglichkeiten für Beschäftigte in restriktiven
Arbeitsbedingungen gelegt, die sich aufgrund einförmiger, monotoner, sich
ständig wiederholender Arbeitsaufgaben mit geringen Anreizen und ohne
Möglichkeit zu sozialen Kontakten nicht weiterentwickeln können. Sie sind bei der Besetzung von anderen gleich- oder
höherwertigen Arbeitsaufgaben bei gleicher Eignung vorrangig zu berücksichtigen.
Eine entsprechende Qualifizierung hat zu erfolgen.
Herausforderungen aus der
Umsetzung des Tarifergebnisses
Das Tarifergebnis traf im Bezirk auf große
Zustimmung. Der Anspruch, durch Tarifpolitik die Arbeitsgesellschaft
solidarisch mitzugestalten, wurde nicht nur formuliert, sondern auch ganz
konkret durchgesetzt. Damit haben wir gute Voraussetzungen geschaffen, um in
Sachen Qualifizierung und Kompetenzentwicklung auch tatsächlich einen Schritt
nach vorne zu tun. Dass die Möglichkeiten gleichzeitig zu einer verbesserten
betrieblichen Praxis führen, ist kein Selbstläufer. Ob es tatsächlich gelingt,
dass
·
mit den gewachsenen Ansprüchen für alle Beschäftigten
der bisherigen selektiven Praxis der betrieblichen Weiterbildung entgegen
gewirkt wird,
·
die Beschäftigten eigene Qualifizierungswünsche und
–vorstellungen offensiv einbringen und das Instrument der Konfliktregelung auch
tatsächlich selbstbewusst nutzen,
·
die Qualifizierungsgespräche nicht zu unverbindlichen
Alibiveranstaltungen verkommen,
·
sich eine partizipative Personalentwicklung durchsetzt, bei
der die Beschäftigte im Rahmen der Bildungsbedarfsplanung nicht nur fremdbestimmt
und top-down verplant werden, sondern - zumindest zum Teil - zum Akteur der
eigenen Zukunftsplanungen werden, ihre eigene individuelle Perspektive – so wie
es für den Kompetenzbegriff konstitutiv ist - einbringen können,
·
die besonderen Qualifikationsvoraussetzungen und
–erfordernisse von unterschiedlichen Beschäftigtengruppen in der Bildungsplanung
im Sinne eines differenziert-dynamischen Konzepts Berücksichtigung finden,
·
aufgrund der deutlich wachsenden beschäftigungs- und
qualifikatorischen Erfordernisse spezielle Programme für ältere Beschäftigte
und für An- und Ungelernten besondere Bedeutung beigemessen wird,
·
sich ein ganzheitlicher Kompetenzbegriff durchsetzt,
all das ist noch keine ausgemachte Sache. Immerhin
haben wir nüchtern zu bilanzieren, dass die bisherigen
Qualifizierungsregelungen im Lohn- und Gehaltsrahmentarifvertrag I in der
betrieblichen Praxis nahezu keine Bedeutung hatten. Dafür gab es natürlich
Gründe, etwa das Fehlen von Ansprüchen, auf die sich der Betriebsrat oder die
Beschäftigten hätten beziehen können. Was aber genauso gesehen werden muss ist,
dass sich Betriebsräte und Vertrauensleute - weil das Thema einfach noch nicht
die Bedeutung wie heute hatte - nicht nachdrücklich genug mit dem Qualifizierungsthema
auseinandergesetzt haben. Wenn überhaupt, dann beschränkte sich die
betriebliche Berufsbildungsarbeit auf die Erstausbildung.
Weiterbildung braucht Rahmenbedingungen und verbindliche
Ansprüche – diese haben wir mit dem Tarifvertrag geschaffen. Inwieweit der
Tarifvertrag die Weiterbildungspraxis und die Möglichkeiten für die
Beschäftigten tatsächlich verbessert, wird allerdings in erster Linie von der
Umsetzung im Betrieb abhängig sein.
Damit sind wir an der Schnittstelle zur
Betriebspolitik. Bei unserem Anspruch auf Beteiligung und Mitbestimmung bei der
Gestaltung der konkreten Arbeits- und Leistungsbedingungen als Gegenmodell zu
einer weitgehenden Deregulierung müssen differenzierte, an den Bedürfnissen der
Individuen ansetzende Gestaltungsoptionen akzeptiert werden, soll
tarifliche Regulierung Akzeptanz finden. Dieser Weg ist umso leichter begehbar,
da gleichzeitig kollektive Schutznormen den Einzelnen vor Ausgrenzung schützen.
Dieser Politikansatz verlangt eine Neukonzeption unserer Betriebspolitik. Wenn
die Durchsetzung individueller Ansprüche im Mittelpunkt kollektiver Regelungen
steht, dann erhält betriebliche gewerkschaftliche Interessenvertretung, die
Arbeit der Vertrauensleute und Betriebsräte in den Abteilungen, neue Aufgaben.
Gemeint ist damit eine sich an individualisierten bzw. adressatenspezifischen
Erfordernissen und Besonderheiten ausgerichteten Umsetzung und Ausgestaltung
der tariflichen Rahmenbedingungen. Die Umsetzung einer die Tarifbestimmungen
konkretisierende Betriebsvereinbarung ist dafür bspw. genauso ein Instrument
wie eine stärkere inhaltliche Auseinandersetzung mit der betrieblichen
Bildungspolitik.
Mit dem neuen Tarifvertrag besteht nun die Chance und
die Notwendigkeit zugleich, sich verstärkt um das Thema Kompetenzentwicklung zu
kümmern. Dass dies v.a. für klein- und mittelständische Unternehmen eine große
Herausforderung darstellt, war den Tarifparteien bewusst. Die Einführung der
Tarifbestimmung bedarf, insbesondere für Betriebe, die bisher kaum eine
konzeptionell begründete und systematische Weiterbildung und Personalentwicklung
betrieben haben, einer intensiveren Beratung und Begleitung. Nicht zuletzt
deshalb haben die Tarifparteien vereinbart, die gemeinsame Agentur zur
Förderung der beruflichen Weiterbildung zu gründen. Neben der Konfliktlösung
kommt ihr eine wichtige unterstützende Funktion bei der Implementierung des
Tarifvertrags zu, sei es bei der Entwicklung von Qualitätskriterien für
Weiterbildungsmaßnahmen und -anbieter, bei der Zertifizierung von Weiterbildungsleistungen,
bei der Unterstützung und Beratung in Fragen der Bildungsplanung und
Personalentwicklung oder im Verfügbarmachen von nach Beschäftigtengruppen und Betriebsgrößen
ausdifferenzierten Konzepten der Kompetenzentwicklung. Gerade der letztgenannte
Aspekt spielt im Kontext ausdifferenzierter Interessenslagen und einer
differentiell dynamischen Gestaltung der Arbeits- und Lernumgebung eine
wichtige Rolle. Verschiedene Menschen und die unterschiedlichen
Beschäftigtengruppen haben unterschiedliche Qualifikationsbereitschaften und
bringen jeweils unterschiedliche Qualifikationsvoraussetzungen und
Sozialisationserfahrungen mit.
Eine Herausforderung aus der Umsetzung besteht auch
in der entwicklungsförderlichen Gestaltung der Arbeits- und Lernumgebung. Qualifizierungspolitik
lässt sich immer weniger auf das Anbieten, Durchführen und Evaluieren
spezieller, intentionaler Weiterbildungsmaßnahmen reduzieren. Vielmehr wird es
auch darum gehen müssen, die Arbeit selbst lern- und entwicklungsförderlich zu
gestalten.
Weiterbildung wird im Tarifvertrag als eine
inhaltlich abgegrenzte und beschriebene Maßnahme definiert. Das schließt zwar
aus, den Arbeitsprozess an sich schon als Lernprozess zu fassen; dennoch zeigen empirische Umfragen, dass die
Einschätzung darüber, was Qualifizierung oder Kompetenzentwicklung konkret ist,
sehr stark variieren. Da der Tarifvertrag bewusst von einem breiten
Weiterbildungsbegriff ausgeht, gilt es hier in der betrieblichen Praxis eine
Verständigung zu finden, insbesondere weil die Grauzone bzw. die Schnittmenge
zwischen beruflicher und persönlicher Weiterbildung immer größer und unschärfer
wird (vgl. Dehnbostel 2001).
Aus dem Rückbezug beruflichen Lernens auf reale
Arbeitsprozesse ergeben sich weitere Fragen und Probleme (vgl. Dehnbostel
2000). Dazu gehören z.B.: Durch welche Maßnahmen zeichnet sich
arbeitsorientiertes Lernen aus? Wenn Lernen im Prozess der Arbeit stattfinden
soll, muss zwangsläufig die konkreten Arbeitsumgebungen und –anforderungen mit
thematisiert werden. Damit wird das Kompetenzthema umfassender und komplexer.
Bzgl. der dezentralen Lernformen ist z.B. organisatorisch-strukturell zu
analysieren, wie diese in die betriebliche Ablauf- und Aufbauorganisation
eingebettet sind und es ist zu entscheiden, inwieweit sie Teil beruflicher
Bildungsgänge und Qualifizierungsmaßnahmen sind. „Dabei ist zu klären, ob neue
Arbeitsorganisationsformen wie Gruppenarbeit und Projektarbeit den dezentralen
Lernformen zuzuordnen sind.“ (Ebenda) Eine weitere wichtige Frage in diesem Zusammenhang
ist z.B., wie die im (betrieblichen wie außerbetrieblichen) Erfahrungswissen
erworbenen Qualifikationen erfasst, zertifiziert und für weiterführende
Bildungsgänge anrechenbar werden? Hier können Bildungspässe eine gute, formale
Grundlage bieten. Allerdings wird auch deutlich, dass sich nicht alle Fragen
ausschließlich auf der betrieblichen Ebene abhandeln lassen; vieles verweist
auf weiteren berufspädagogischen und bildungspolitischen sowie – was z.B. die
Arbeitszeitpolitik und die Gestaltung von Arbeitsbedingungen z.B. durch eine
beeinträchtigungsfreie Leistungspolitik anbelangt –tarifpolitischen
Handlungsbedarf.
Eine weitere Herausforderung, die wir aus der
Umsetzung des Tarifergebnisses sehen, sind die „Mitarbeitergespräche“ und
„Bildungsbedarfsanalyse“. Die Leitfrage lautet hier: Wie können
Mitarbeitergespräche so geführt werden, dass die Beschäftigten über ihre eigene
Situation bewusst reflektieren und daraus entsprechende Anforderungen i.S.
einer Partizipationsmöglichkeit für die weitere berufliche Entwicklung
formulieren können? Hierzu scheinen vorbereitende Informationen an die
Beschäftigten, die Schulung der Vorgesetzten und eine entsprechende
Strukturierung des Gesprächs (z.B. mittels Gesprächsleitfaden) hilfreich und
teilweise auch notwendig zu sein. Um eine echte Partizipation zu ermöglichen
ist es gleichzeitig wichtig, bei den Beschäftigten ein Bewusstsein der
Divergenz zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Möglichkeiten, diese in der
Arbeitstätigkeit zu erfüllen, zu entwickeln. Gut handhabbare und
zeitökonomische Methoden, mit deren Hilfe die Widersprüche erlebbar gemacht und
entsprechende Handlungsintentionen und Qualifizierungsbereitschaften ausgelöst
sowie konkrete Weiterbildungsmaßnahmen identifiziert werden können, sind
beispielsweise die subjektive Tätigkeitsanalyse (STA) (beschrieben bei Ulich
1999, S. 131 ff.) oder die Tätigkeitsanalyse durch Beschäftigte (TAB) (IG
Metall)
Gemäß Tarifvertrag zur Qualifizierung ist der
Bildungsbedarf mit dem Betriebsrat zu beraten. Dabei kommt dem Betriebsrat und
den Vertrauensleuten die Aufgabe zu, auf der Grundlage eigener Kriterien die
Bildungsplanung zu bewerten und mit eigenen Vorstellungen und Konzepten
initiativ zu werden. Dafür gilt es nun die formalen, inhaltlichen und
methodischen Voraussetzungen zu schaffen.
Die von uns in diesem Artikel getroffenen
Einschätzungen bzgl. der Chancen und Herausforderungen erheben nicht den
Anspruch auf Vollständigkeit. Das können sie auch gar nicht, denn wir sind uns
sicher, dass sich viele weitere Fragen erst im Prozess der Umsetzung ergeben
werden.
Wir werden der Einführung des innovativen
Tarifvertrags zur Qualifizierung ein hohes Maß an Aufmerksamkeit schenken, auf
dass aus Möglichkeiten auch eine verbesserte betriebliche Wirklichkeit wird.
Literatur:
Allespach
/ Heimann:
„Qualifizierung – Unternehmen auf dem Prüfstand, Ergebnisse einer Befragung der
IG Metall Baden-Württemberg“, Gewerkschaftliche Bildungspolitik 7/8 2001.
Dehnbostel,
Peter:
„Erfahrungslernen im Kontext beruflich-betrieblicher Kompetenzentwicklung und
lebensbegleitenden Lernens“, Senatsbehörde für Arbeit in Berlin, 2000
Dehnbostel,
Peter: Wandel
betrieblicher Bildungsarbeit: Partizipation und Lernkultur auf veränderter
Grundlage“, in DIE 2001
IG Metall: „Handbuch zur betrieblichen Ermittlung des
Qualifizierungsbedarfs“, Frankfurt 1996
Ulich,
Eberhard: „ Lern-
und Entwicklungspotentiale in der Arbeit – Beiträge der Arbeits- und
Organisationspsychologie“, in Sonntag, Karlheinz (Hrsg.): „Personalentwicklung
in Organisationen“, Hogrefe 1999