Berthold Huber / Martin Allespach

 

Weiterbildung als tarifpolitische Gestaltungsaufgabe -

 

Der Tarifvertrag zur Qualifizierung in Baden-Württemberg

 

 

Märkte und Produkte haben sich in den letzten Jahren tiefgreifend verändert. Globalisierung, eine sich immer rasanter entwickelnde Innovationsdynamik sowie der immer deutlicher werdende Trend in die Wissens- und Informationsgesellschaft gehören zu den Megatrends unserer heutigen Zeit. Es gibt verschiedene arbeitspolitische Strategien, sich den daraus erwachsenden Herausforderungen zu stellen.

 

Eine, unserer Meinung nach restriktive Strategie besteht darin, den Faktor Mensch möglichst kostenoptimal zu verplanen. Eine Leistungsoptimierung soll im Kern durch Arbeitsintensivierung erreicht werden.

 

Eine andere, progressive und nachhaltige Strategie, sich den o.g. Megaentwicklungen zu stellen, besteht in einer Neubewertung des Menschen in der Produktion. Menschliche Qualifikationen und Kompetenzen sollen bewusst genutzt und zur Entfaltung gebracht werden.

 

Berufliche Kompetenzen bestimmen ganz wesentlich die Arbeits- und Entwicklungsbedingungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Qualifikationen entscheiden zunehmend mehr über die Beschäftigungsfähigkeit.

In einer knowledge based Economy gewinnt Weiterbildung aber auch unter ökonomischen Gesichtspunkten an Bedeutung. So spricht das Stuttgarter Frauenhofer Institut für Arbeitsorganisation etwa davon, dass heute bereits ca. die Hälfte der Wertschöpfung auf die Faktoren Wissen und Erfahrung zurückgehen - mit steigender Tendenz.

 

Gemessen an den Erfordernissen der Wissens- und Informationsgesellschaft ist die Praxis der betrieblichen Weiterbildung mehr als bescheiden. Dies belegt eine Untersuchung, die die IG Metall Bezirksleitung Baden-Württemberg Anfang 2001 durchgeführt hatte (vgl. Allespach / Heimann 2001). Während lebenslanges Lernen zunehmend einer unausweichlichen Sachzwanglogik folgt, gab es für die Beschäftigten bisher keine  Garantie, tatsächlich auch Zugänge zum Lernen zu erhalten bzw. in organisierte Lernprozesse integriert zu werden.

 

Defizite in der betrieblichen Weiterbildungspraxis

 

Weiterbildung ist keineswegs für alle Beschäftigten gleichermaßen erreichbar. Die Chancen, an Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen, sind abhängig von Faktoren wie Alter, Geschlecht, der Nationalität, dem Qualifikationsniveau und der Betriebsgröße. Betrieblich veranlasste Weiterbildung ist v.a. für un- und angelernte Arbeiter und für ältere Arbeitnehmer eher eine Fata-Morgana, als erreichbare Realität. Die ist angesichts der beschäftigungs- und qualifikatorischen Erfordernissen, denen sich v.a. diese Beschäftigtengruppen im Arbeitmarkt und in der Branche stellen müssen, alarmierend.

 

Die Halbwertszeit des Wissens wird immer kürzer, neue Informationen verändern die Betriebe; eine berufsfachliche Qualifizierung (Basisqualifikation) wird damit vor allem für ältere Arbeitnehmer unerlässlich.

Die Altersstruktur in der Metall- und Elektroindustrie wird sich dramatisch verändern. Während 1990 der Anteil der 45 – 64jährigen 36 % betrug, werden es im Jahr 2010: 53 % sein. Die Veränderung muss zu neuen Anforderungen in der betrieblichen Weiterbildung führen, in dem die Entwicklung von Kompetenz nicht auf die ersten Berufsjahre beschränkt bleiben, sondern ein lebenslanger Prozess ist, der v.a. für ältere Beschäftigte von enormer beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischer Bedeutung ist. Das beweist auch ein Blick in die Arbeitslosenstatistik: Der Anteil der Beschäftigten 50 Jahre und älter beträgt in Baden-Württemberg fast 40 Prozent.

 

Brisanz hat das Qualifizierungsthema auch für die An- und Ungelernten. Alle Prognosen deuten darauf hin, dass sich die Zahl der Arbeitsplätze für Un- und Angelernte in den nächsten Jahren dramatisch verringern werden. Auch in diesen Fällen hat Weiterbildung unmittelbar eine beschäftigungspolitische Dimension. Fehlende Qualifizierungschancen wirken sich verheerend aus.

 

Die Ergebnisse der Befragung der IG Metall im Bezirk Baden-Württemberg unterstrichen die Notwendigkeit eines chancengleichen Zugangs zur Weiterbildung. Dieser entsteht nicht etwa naturwüchsig oder zwangsläufig, sondern bedarf konkreter und verbindlicher Ansprüche und der Stärkung der Betriebsräte bei der Durchsetzung der Qualifizierungsinteressen der Beschäftigten.

 

Unsere Umfrage hat noch einen weiteren gravierenden Tatbestand ans Licht gebracht. Nur in 38 Prozent der Betriebe gibt es eine systematische Qualifizierungs- und/oder Personalplanung. Eine deutliche Mehrheit der Befragten antworteten auf die Frage, nach einer gezielten Personalentwicklung und Weiterbildungsplanung mit einem klaren Nein, diese gebe es nicht.

 

Die Befunde der IG Metall-Umfrage zeigen, wie sorglos die Unternehmen bisher mit ihrer wichtigsten Ressource dem Humankapital umgegangen sind und welche Risiken für die Beschäftigten damit hinsichtlich ihrer beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten und Arbeitsplatz- sowie Beschäftigungssituation verbunden sind.

 

Die Arbeitsgesellschaft solidarisch gestalten -

tarifpolitische Qualifizierungs-Initiative der IG Metall in Baden-Württemberg

 

Auf einer Klausur der Großen Tarifkommission der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg im Oktober 2000 wurde eine Entschließung verabschiedet, die den Titel trägt: „Für eine moderne und solidarische Arbeitsgesellschaft“. Darin wurde der Anspruch der IG Metall formuliert, die Zukunft der Arbeitsgesellschaft aktiv mitzugestalten. Neben einer offensiven Verteilungspolitik und aktiven Beschäftigungspolitik ist zentrales Ziel dieses Gestaltungsanspruchs die Durchsetzung einer nachhaltigen Arbeitspolitik. Eine solche nachhaltige Arbeitspolitik zielt „auf die Nutzung und Erweiterung der Qualifikations- und Erfahrungspotenziale der Beschäftigten während ihres ganzen Arbeitslebens. Der Ausschluss von Gesundheitsgefährdung durch die Arbeit ist dafür Voraussetzung. Entsprechend sind die Arbeits- und Leistungsbedingungen wie Arbeitszeiten zu gestalten. Dies erfordert eine wirksame Beteiligung der Beschäftigten an der Gestaltung und Festlegung ihrer Arbeitsaufgaben, bei Arbeitzeitmodellen und der von ihnen abgeforderten Leistung. Sie hat auf den Schutz derer zu achten, die aufgrund ihrer Ausbildung, ihres Geschlechts oder ihrer gesundheitlichen Einschränkungen von Ausgrenzung und Diskriminierung bedroht sind.“ (Entschließung der Großen Tarifkommission Baden-Württemberg vom 25.10.2000). Damit wurde eine progressiv-nachhaltige Arbeitspolitik, wie wir sie einleitend skizziert haben, auf die tarifpolitische Agenda gesetzt. Als zentrales arbeitspolitisches Handlungsfeld fiel dabei der Kompetenzentwicklung der Beschäftigten eine wichtige Bedeutung zu. Die Kernforderungen der IG Metall im Bezirk Baden-Württemberg in der Tarifrunde 2001 bezogen sich auf die Durchsetzung eines Reklamationsrechts bei der Leistungsüberlastung für Beschäftigte aus dem Zeitlohn und der Angestellten, der bessere Schutz von einsatzeingeschränkten Beschäftigten und - ausgehend von den o.g. gravierenden Defiziten in der betrieblichen Praxis - deutlich verbesserte tarifliche Regelungen zur beruflichen Weiterbildung, insbesondere was den Anspruch jedes Beschäftigten auf eine Qualifizierungsvereinbarung zur Festlegung des Qualifizierungsbedarfs und den daraus resultierenden Qualifizierungsmaßnahmen betrifft.

 

Die Tarifrunde war eingebettet in die Kampagne „gute arbeit“, bei der u.a. in über 370 Betrieben die Praxis der Weiterbildung auf den Prüfstand gestellt wurde (zu den Ergebnissen siehe oben). Insgesamt beteiligten sich über 200 000 Kolleginnen und Kollegen an Warnstreiks. Über ein dreiviertel Jahr lang wurden in den Betrieben und Verwaltungsstellen, auf Betriebs- und Funktionärsversammlungen, unter Beschäftigten, Betriebsräten und Vertrauensleuten, intensiv die Themen Qualifizierung und Leistung besprochen und diskutiert.

 

Der Tarifvertrag zur Qualifizierung in der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württembergs

 

Am 19. Juni 2001 konnte der Tarifvertrag zur Qualifizierung durchgesetzt werden. Nachfolgend möchten wir diesen kurz skizzieren. Neben dem Tarifvertrag zur Qualifizierung wurden Eckpunkte zum Schutz einsatzeingeschränkter Beschäftigter formuliert, die die Basis für weitere Verhandlungen sind. Weitgehend offen blieben, trotz betrieblichen Drucks, die Forderungen nach wirksamen Reklamationsrechten bei Leistungsüberlastung.

 

Der Tarifvertrag zur Qualifizierung unterscheidet zunächst zwischen betrieblicher und persönlicher Weiterbildung. Während bei der betrieblichen Weiterbildung die Kostenübernahme durch den Arbeitgeber erfolgt und die Maßnahmen im Rahmen der bezahlten Arbeitszeit stattfinden, erfolgt bei der persönlichen Weiterbildung ein Freistellungsanspruch und die Kostenübernahme durch die Beschäftigten.

 

Betriebliche Weiterbildung im Sinne dieses Tarifvertrages ist:

·         Anpassungsqualifizierung mit dem Ziel, veränderte Anforderungen im eigenen Aufgabengebiet erfüllen zu können.

·         Erhaltungsqualifizierung mit dem Ziel, die ständige Fortentwicklung des fachlichen, methodischen und sozialen Wissens im Rahmen des eigenen Aufgabengebietes nachvollziehen zu können. Dazu gehört auch das berufliche Basiswissen. Während die Anpassungsqualifizierung einen deutlichen Anforderungsbezug hat, nimmt Erhaltungsqualifizierung zusätzlich die jeweils individuelle Qualifikation in den Blick.

·         Qualifizierung zur beruflichen Entwicklung mit dem Ziel, eine andere gleich- oder höherwertige Arbeitsaufgabe für zu besetzende Arbeitsplätze übernehmen zu können. Dies gilt insbesondere beim Wegfall von Arbeitsaufgaben.

 

Eine Qualifizierungsmaßnahme ist nach dem Tarifvertrag eine zeitlich, inhaltlich abgegrenzte und beschriebene Maßnahme. Die Teilnahme an einer Qualifizierungsmaßnahme wird dokumentiert und den Beschäftigten bestätigt. Dabei können die Beschäftigten ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen einbringen.

 

Kernpunkt des Tarifvertrags ist der Anspruch jedes Beschäftigten auf ein regelmäßiges (i.d.R. jährliches) Gespräch mit dem Arbeitgeber, in dem gemeinsam festgestellt wird, ob und welcher Qualifizierungsbedarf besteht und in dem die notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen vereinbart werden. Wird zwischen Beschäftigten und Arbeitgeber  kein Einvernehmen über  den Qualifizierungsbedarf oder die daraus resultierenden notwendigen Qualifizierungsmaßnahmen erzielt, wird diese Einigung in einem betrieblichen Konfliktlösungsverfahren gefunden (s.u.. Im Rahmen der Gespräche wird bei älteren Beschäftigten besonders auf deren Basiswissen im eigenen Aufgabengebiet eingegangen). Anspruch auf eine solche Vereinbarung besteht auch bei der Rückkehr aus der gesetzlichen Elternzeit.

Zusätzlich können Vorgesetzte, Beschäftigte oder Betriebsrat Qualifizierungsmaßnahmen vorschlagen. So kann hier in Zukunft das Initiativrecht nach § 97 BetrVG genutzt werden.

 

Der Betriebsrat wird mindestens jährlich über den Qualifizierungsbedarf und die Maßnahmen informiert. Die Umsetzung der Qualifizierungsmaßnahmen wird mit ihm beraten. Hier schließt auch das Beratungs- und Mitbestimmungsrecht nach §§ 96 - 98 BetrVG an. Damit hat der Betriebsrat die Möglichkeit, auch selbständig Qualifizierungsmaßnahmen zu fordern und durchzusetzen. Für an- und ungelernte Beschäftigte sollen spezielle Programme vereinbart werden. Darüber hinaus können Vorgesetzte, Beschäftigte und der Betriebsrat jederzeit zusätzliche Vorschläge für Qualifikationsmaßnahmen einbringen.

 

Die Kosten der beruflichen Qualifizierung trägt, soweit sie nicht von Dritten übernommen werden, der Arbeitgeber. Die Zeit der Qualifizierungsmaßnahmen gilt als Arbeitszeit. Qualifizierung außerhalb der vereinbarten täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit wird zuschlagsfrei vergütet.

 

Die Konfliktlösung in Betrieben ab 300 Beschäftigten erfolgt in einer Paritätischen Kommission. Hier werden Konfliktfälle bei der Feststellung des Qualifizierungsbedarfs oder der Vereinbarung der Qualifizierungsmaßnahmen entschieden. In Betrieben bis 300 Beschäftigten erfolgt diese Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. Ist auch hier keine einvernehmliche Lösung möglich, wird ein Vertreter der gemeinsamen Agentur zur Förderung der betrieblichen Weiterbildung hinzugezogen (s.u.. Dieser erhält Stimmrecht).

 

Die Tarifvertragsparteien schaffen eine gemeinsame Agentur zur Förderung der beruflichen Weiterbildung. Aufgabe dieser Agentur ist es z.B.:

·         Bei Betrieben und Beschäftigten das Bewusstsein zu stärken, dass ständige berufliche Qualifizierung notwendig ist, in dem Bemühen, Qualifikationspotentiale der Beschäftigten zu nutzen.

·         Weiterbildungsmaßnahmen für un- und angelernte Beschäftigte, ältere Beschäftigte und Beschäftigte nach Arbeitsunterbrechungszeiten (z.B. Kindererziehung) zu entwickeln.

·         Den Wandel der Qualifikationsanforderungen durch den Strukturwandel in der Metall- und Elektroindustrie zu beobachten und rechtzeitig Maßnahmen vorzuschlagen, die die Beschäftigungschancen der Beschäftigten nachhaltig fördern und Qualifikationsengpässen gegensteuern.

·         Information und Transparenz bei den außerbetrieblichen beruflichen Qualifizierungsangeboten zu verbessern.

·         Modelle für die betriebliche Weiterqualifizierung bekannt zu machen und, soweit sie fehlen, zu entwickeln.

·         Unternehmen und Betriebsräte über das Angebot, Durchführung und Methoden von Qualifizierungsmaßnahmen, zu beraten. Dies gilt im Besonderen für eine Beratung kleiner und mittlerer Unternehmen. Hierzu gehört auch die Beratung bei der Inanspruchnahme von Mitteln der aktiven Arbeitsmarktpolitik.

·         In Konfliktfällen zur Weiterbildung zur Entscheidung beizutragen

·         Qualitätsstandards für betriebliche Weiterbildung zu entwickeln, die Qualität von Weiterbildungseinrichtungen und Maßnahmen zu begutachten und ggf. zertifizieren.

 

Beschäftigte haben unter Wahrung tarifvertraglich festgelegter Ankündigungsfristen nach 5 Jahren Betriebszugehörigkeit Anspruch auf eine, bis zu 3jährige Freistellung mit gleichzeitiger Wiedereinstellungszusage zur persönlichen beruflichen Entwicklung. Für Betriebe mit weniger als 50 Beschäftigte gilt dieser Anspruch nicht.

 

Besonderes Augenmerk wurde auf die berufliche Entwicklungsmöglichkeiten für Beschäftigte in restriktiven Arbeitsbedingungen gelegt, die sich aufgrund einförmiger, monotoner, sich ständig wiederholender Arbeitsaufgaben mit geringen Anreizen und ohne Möglichkeit zu sozialen Kontakten nicht weiterentwickeln können. Sie sind bei der Besetzung von anderen gleich- oder höherwertigen Arbeitsaufgaben bei gleicher Eignung vorrangig zu berücksichtigen. Eine entsprechende Qualifizierung hat zu erfolgen.

 

Herausforderungen aus der Umsetzung des Tarifergebnisses

 

Das Tarifergebnis traf im Bezirk auf große Zustimmung. Der Anspruch, durch Tarifpolitik die Arbeitsgesellschaft solidarisch mitzugestalten, wurde nicht nur formuliert, sondern auch ganz konkret durchgesetzt. Damit haben wir gute Voraussetzungen geschaffen, um in Sachen Qualifizierung und Kompetenzentwicklung auch tatsächlich einen Schritt nach vorne zu tun. Dass die Möglichkeiten gleichzeitig zu einer verbesserten betrieblichen Praxis führen, ist kein Selbstläufer. Ob es tatsächlich gelingt, dass

·         mit den gewachsenen Ansprüchen für alle Beschäftigten der bisherigen selektiven Praxis der betrieblichen Weiterbildung entgegen gewirkt wird,

·         die Beschäftigten eigene Qualifizierungswünsche und –vorstellungen offensiv einbringen und das Instrument der Konfliktregelung auch tatsächlich selbstbewusst nutzen,

·         die Qualifizierungsgespräche nicht zu unverbindlichen Alibiveranstaltungen verkommen,

·         sich eine partizipative Personalentwicklung durchsetzt, bei der die Beschäftigte im Rahmen der Bildungsbedarfsplanung nicht nur fremdbestimmt und top-down verplant werden, sondern - zumindest zum Teil - zum Akteur der eigenen Zukunftsplanungen werden, ihre eigene individuelle Perspektive – so wie es für den Kompetenzbegriff konstitutiv ist - einbringen können,

·         die besonderen Qualifikationsvoraussetzungen und –erfordernisse von unterschiedlichen Beschäftigtengruppen in der Bildungsplanung im Sinne eines differenziert-dynamischen Konzepts Berücksichtigung finden,

·         aufgrund der deutlich wachsenden beschäftigungs- und qualifikatorischen Erfordernisse spezielle Programme für ältere Beschäftigte und für An- und Ungelernten besondere Bedeutung beigemessen wird,

·         sich ein ganzheitlicher Kompetenzbegriff durchsetzt,

all das ist noch keine ausgemachte Sache. Immerhin haben wir nüchtern zu bilanzieren, dass die bisherigen Qualifizierungsregelungen im Lohn- und Gehaltsrahmentarifvertrag I in der betrieblichen Praxis nahezu keine Bedeutung hatten. Dafür gab es natürlich Gründe, etwa das Fehlen von Ansprüchen, auf die sich der Betriebsrat oder die Beschäftigten hätten beziehen können. Was aber genauso gesehen werden muss ist, dass sich Betriebsräte und Vertrauensleute - weil das Thema einfach noch nicht die Bedeutung wie heute hatte - nicht nachdrücklich genug mit dem Qualifizierungsthema auseinandergesetzt haben. Wenn überhaupt, dann beschränkte sich die betriebliche Berufsbildungsarbeit auf die Erstausbildung.

 

Weiterbildung braucht Rahmenbedingungen und verbindliche Ansprüche – diese haben wir mit dem Tarifvertrag geschaffen. Inwieweit der Tarifvertrag die Weiterbildungspraxis und die Möglichkeiten für die Beschäftigten tatsächlich verbessert, wird allerdings in erster Linie von der Umsetzung im Betrieb abhängig sein.

 

Damit sind wir an der Schnittstelle zur Betriebspolitik. Bei unserem Anspruch auf Beteiligung und Mitbestimmung bei der Gestaltung der konkreten Arbeits- und Leistungsbedingungen als Gegenmodell zu einer weitgehenden Deregulierung müssen differenzierte, an den Bedürfnissen der Individuen ansetzende Gestaltungsoptionen akzeptiert werden, soll tarifliche Regulierung Akzeptanz finden. Dieser Weg ist umso leichter begehbar, da gleichzeitig kollektive Schutznormen den Einzelnen vor Ausgrenzung schützen. Dieser Politikansatz verlangt eine Neukonzeption unserer Betriebspolitik. Wenn die Durchsetzung individueller Ansprüche im Mittelpunkt kollektiver Regelungen steht, dann erhält betriebliche gewerkschaftliche Interessenvertretung, die Arbeit der Vertrauensleute und Betriebsräte in den Abteilungen, neue Aufgaben. Gemeint ist damit eine sich an individualisierten bzw. adressatenspezifischen Erfordernissen und Besonderheiten ausgerichteten Umsetzung und Ausgestaltung der tariflichen Rahmenbedingungen. Die Umsetzung einer die Tarifbestimmungen konkretisierende Betriebsvereinbarung ist dafür bspw. genauso ein Instrument wie eine stärkere inhaltliche Auseinandersetzung mit der betrieblichen Bildungspolitik.

 

Mit dem neuen Tarifvertrag besteht nun die Chance und die Notwendigkeit zugleich, sich verstärkt um das Thema Kompetenzentwicklung zu kümmern. Dass dies v.a. für klein- und mittelständische Unternehmen eine große Herausforderung darstellt, war den Tarifparteien bewusst. Die Einführung der Tarifbestimmung bedarf, insbesondere für Betriebe, die bisher kaum eine konzeptionell begründete und systematische Weiterbildung und Personalentwicklung betrieben haben, einer intensiveren Beratung und Begleitung. Nicht zuletzt deshalb haben die Tarifparteien vereinbart, die gemeinsame Agentur zur Förderung der beruflichen Weiterbildung zu gründen. Neben der Konfliktlösung kommt ihr eine wichtige unterstützende Funktion bei der Implementierung des Tarifvertrags zu, sei es bei der Entwicklung von Qualitätskriterien für Weiterbildungsmaßnahmen und -anbieter, bei der Zertifizierung von Weiterbildungsleistungen, bei der Unterstützung und Beratung in Fragen der Bildungsplanung und Personalentwicklung oder im Verfügbarmachen von nach Beschäftigtengruppen und Betriebsgrößen ausdifferenzierten Konzepten der Kompetenzentwicklung. Gerade der letztgenannte Aspekt spielt im Kontext ausdifferenzierter Interessenslagen und einer differentiell dynamischen Gestaltung der Arbeits- und Lernumgebung eine wichtige Rolle. Verschiedene Menschen und die unterschiedlichen Beschäftigtengruppen haben unterschiedliche Qualifikationsbereitschaften und bringen jeweils unterschiedliche Qualifikationsvoraussetzungen und Sozialisationserfahrungen mit.

 

Eine Herausforderung aus der Umsetzung besteht auch in der entwicklungsförderlichen Gestaltung der Arbeits- und Lernumgebung. Qualifizierungspolitik lässt sich immer weniger auf das Anbieten, Durchführen und Evaluieren spezieller, intentionaler Weiterbildungsmaßnahmen reduzieren. Vielmehr wird es auch darum gehen müssen, die Arbeit selbst lern- und entwicklungsförderlich zu gestalten.

Weiterbildung wird im Tarifvertrag als eine inhaltlich abgegrenzte und beschriebene Maßnahme definiert. Das schließt zwar aus, den Arbeitsprozess an sich schon als Lernprozess  zu fassen; dennoch zeigen empirische Umfragen, dass die Einschätzung darüber, was Qualifizierung oder Kompetenzentwicklung konkret ist, sehr stark variieren. Da der Tarifvertrag bewusst von einem breiten Weiterbildungsbegriff ausgeht, gilt es hier in der betrieblichen Praxis eine Verständigung zu finden, insbesondere weil die Grauzone bzw. die Schnittmenge zwischen beruflicher und persönlicher Weiterbildung immer größer und unschärfer wird (vgl. Dehnbostel 2001).

Aus dem Rückbezug beruflichen Lernens auf reale Arbeitsprozesse ergeben sich weitere Fragen und Probleme (vgl. Dehnbostel 2000). Dazu gehören z.B.: Durch welche Maßnahmen zeichnet sich arbeitsorientiertes Lernen aus? Wenn Lernen im Prozess der Arbeit stattfinden soll, muss zwangsläufig die konkreten Arbeitsumgebungen und –anforderungen mit thematisiert werden. Damit wird das Kompetenzthema umfassender und komplexer. Bzgl. der dezentralen Lernformen ist z.B. organisatorisch-strukturell zu analysieren, wie diese in die betriebliche Ablauf- und Aufbauorganisation eingebettet sind und es ist zu entscheiden, inwieweit sie Teil beruflicher Bildungsgänge und Qualifizierungsmaßnahmen sind. „Dabei ist zu klären, ob neue Arbeitsorganisationsformen wie Gruppenarbeit und Projektarbeit den dezentralen Lernformen zuzuordnen sind.“ (Ebenda) Eine weitere wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist z.B., wie die im (betrieblichen wie außerbetrieblichen) Erfahrungswissen erworbenen Qualifikationen erfasst, zertifiziert und für weiterführende Bildungsgänge anrechenbar werden? Hier können Bildungspässe eine gute, formale Grundlage bieten. Allerdings wird auch deutlich, dass sich nicht alle Fragen ausschließlich auf der betrieblichen Ebene abhandeln lassen; vieles verweist auf weiteren berufspädagogischen und bildungspolitischen sowie – was z.B. die Arbeitszeitpolitik und die Gestaltung von Arbeitsbedingungen z.B. durch eine beeinträchtigungsfreie Leistungspolitik anbelangt –tarifpolitischen Handlungsbedarf.

 

Eine weitere Herausforderung, die wir aus der Umsetzung des Tarifergebnisses sehen, sind die „Mitarbeitergespräche“ und „Bildungsbedarfsanalyse“. Die Leitfrage lautet hier: Wie können Mitarbeitergespräche so geführt werden, dass die Beschäftigten über ihre eigene Situation bewusst reflektieren und daraus entsprechende Anforderungen i.S. einer Partizipationsmöglichkeit für die weitere berufliche Entwicklung formulieren können? Hierzu scheinen vorbereitende Informationen an die Beschäftigten, die Schulung der Vorgesetzten und eine entsprechende Strukturierung des Gesprächs (z.B. mittels Gesprächsleitfaden) hilfreich und teilweise auch notwendig zu sein. Um eine echte Partizipation zu ermöglichen ist es gleichzeitig wichtig, bei den Beschäftigten ein Bewusstsein der Divergenz zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Möglichkeiten, diese in der Arbeitstätigkeit zu erfüllen, zu entwickeln. Gut handhabbare und zeitökonomische Methoden, mit deren Hilfe die Widersprüche erlebbar gemacht und entsprechende Handlungsintentionen und Qualifizierungsbereitschaften ausgelöst sowie konkrete Weiterbildungsmaßnahmen identifiziert werden können, sind beispielsweise die subjektive Tätigkeitsanalyse (STA) (beschrieben bei Ulich 1999, S. 131 ff.) oder die Tätigkeitsanalyse durch Beschäftigte (TAB) (IG Metall)

 

Gemäß Tarifvertrag zur Qualifizierung ist der Bildungsbedarf mit dem Betriebsrat zu beraten. Dabei kommt dem Betriebsrat und den Vertrauensleuten die Aufgabe zu, auf der Grundlage eigener Kriterien die Bildungsplanung zu bewerten und mit eigenen Vorstellungen und Konzepten initiativ zu werden. Dafür gilt es nun die formalen, inhaltlichen und methodischen Voraussetzungen zu schaffen.

 

Die von uns in diesem Artikel getroffenen Einschätzungen bzgl. der Chancen und Herausforderungen erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Das können sie auch gar nicht, denn wir sind uns sicher, dass sich viele weitere Fragen erst im Prozess der Umsetzung ergeben werden.

 

Wir werden der Einführung des innovativen Tarifvertrags zur Qualifizierung ein hohes Maß an Aufmerksamkeit schenken, auf dass aus Möglichkeiten auch eine verbesserte betriebliche Wirklichkeit wird.

 

 

Literatur:

 

Allespach / Heimann: „Qualifizierung – Unternehmen auf dem Prüfstand, Ergebnisse einer Befragung der IG Metall Baden-Württemberg“, Gewerkschaftliche Bildungspolitik 7/8 2001.

Dehnbostel, Peter: „Erfahrungslernen im Kontext beruflich-betrieblicher Kompetenzentwicklung und lebensbegleitenden Lernens“, Senatsbehörde für Arbeit in Berlin, 2000

Dehnbostel, Peter: Wandel betrieblicher Bildungsarbeit: Partizipation und Lernkultur auf veränderter Grundlage“, in DIE 2001

IG Metall: „Handbuch zur betrieblichen Ermittlung des Qualifizierungsbedarfs“, Frankfurt 1996

Ulich, Eberhard: „ Lern- und Entwicklungspotentiale in der Arbeit – Beiträge der Arbeits- und Organisationspsychologie“, in Sonntag, Karlheinz (Hrsg.): „Personalentwicklung in Organisationen“, Hogrefe 1999